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Adventsgeflüster #22: Havanna, die Stadt der inneren Bilder

„Kuba löst automatisch innere Bilder aus“, sagt Eva-Maria Fahrner-Tutsek, die in ihrem im Hirmer Verlag erschienenen Bildband „Havana. Short Shadows“ ein Land zeigt, in dem zwar in den letzten Jahren ein gesellschaftlicher, politischer und sozialer Wandel angestoßen wurde, aber dadurch keine direkten Verbesserungen der Lebensbedingungen der meisten Kubaner erreicht werden konnten…

Havanna, das bedeutet für mich Lebensfreude, tanzen, lachen. Selten habe ich mich so wohl gefühlt an einem Ort wie in der kubanischen Hauptstadt 2010. Direkt nach dem Abschluss meines Kulturwirtstudiums an der Universität Passau brach ich gemeinsam mit einer Marco Polo Young Line Travel-Gruppe zu einer Reise auf, die mein Leben nachhaltig prägen und verändern sollte.

„Kuba löst automatisch innere Bilder aus. Bilder, zusammengesetzt aus vergangener und aktueller Politik, inhaltlich divergierenden Romanen, verfilmten Musikgeschichten und den unzähligen Fotografien in immer neu erscheinenden Bildbänden“, sagt Eva-Maria Fahrner-Tutsek, die ich in diesem Jahr bei einem Kunstbrunch im Rahmen der in München stattfindenden Kunstmesse Paper Positions kennenlernte. Zusammen mit ihrem mittlerweile verstorbenen Mann, dem Unternehmer Alexander Tutsek, gründete sie 2000 die Alexander Tutsek-Stiftung als gemeinnützige Stiftung in München. Sie engagiert sich unter dem Überbegriff „Kunst und Wissenschaft“ ganz bewusst für die speziellen, besonderen, aber auch um die vernachlässigten und übersehenen Themen in beiden Bereichen. In ihrer international orientierten Ausstellungs- und Sammlungstätigkeit hat die Stiftung einen Schwerpunkt auf zeitgenössische Skulptur und moderne Fotografie gesetzt und zeigt regelmäßig Ausstellungen zu innovativen Themen in dem ehemaligen Bildhaueratelier einer Schwabinger Jugendstilvilla, das zum Hauptsitz der Alexander Tutsek-Stiftung wurde. So waren unter dem Titel „Das Andere Sehen“ bis Mitte November diesen Jahres unter anderem Arbeiten in Glas von so renommierten Künstlern wie Tony Cragg, Mona Hatoum, oder Kiki Smith und Pae White in den Ausstellungsräumen der Stiftung zu sehen. Und ein Teil der eindrucksvollen Fotos, die Eva-Maria Fahrner-Tutsek vor einigen Jahren während einer Reise nach Kuba von Land und Leuten gelangen.

„Ich lasse mich treiben und finde mich in Centro Habana wieder. Kein Ausländer mehr. Die Wohnhäuser in noch schlechterem Zustand. Junge und ältere Männer auf der Straße. Sie sitzen auf der Türschwelle im Schatten, warten, schauen“, schreibt Fahrner-Tutsek im Vorwort zu ihrem Bildband, der weit mehr ist, als ein fotografisches Zeugnis eines Landes, in dem der Wandel nur äußerlich stattgefunden hat. Nach wie vor sind die Sozialisten an der Macht, auch wenn sie die Hürden für ihre Bürger, privatwirtschaftlich tätig zu werden, in den vergangenen Jahren deutlich lockerte. Aber immer noch beziehen viele Kubaner ihre Lebensmittel über sogenannte „Libreta de Abastecimiento“, wie die Rationierungskarten genannt werden. Viele Einwohner der Inseln leben nach wie vor unter ärmlichen Verhältnissen und können sich an ihren halb verfallenen Häusern, bei deren Anblick der gut betuchte Tourist aus dem Westen vor lauter Shabby Chic ganz in Entzückung gerät, wenig Positives abgewinnen.

„Havanna ist eine Herausforderung für die Sinne. Grelle Sonne und dunkle Schatten wechseln sich in den Straßen ab. Die von der Revolution hinterlassenen Ruinen erschrecken. Nicht nur die baulichen“, heißt es in Eva-Maria Fahrner-Tutsek Vorwort Ihres Bildbands weiter.

Sie setzt der von vielen Fotografen beschworenen Postkartenromantik ihre eigene, realistische Sicht auf das Leben in der vom Sozialismus geprägten Stadt Havanna entgehen. Doch auch wenn sich hinter all ihren Bildern die Misere hinter der Hoffnung auf Veränderung und wachsenden Wohlstand zeigt: Fahrner-Tutseks ist keine Voyeurin, sondern eine sehr kluge Beobachterin außergewöhnlicher Alltagssituationen. Ihr Blick auf die Lebensumstände der Einwohner Havannas ist klar und unverstellt – und zugleich oft urkomisch und sehr skurril. Auf einem meiner Lieblingsfotos streift eine Frau mittleren Alters mit einem amerikanischen „Stars&Stripes“-T-Shirt bekleidet durch die Straßen der kubanischen Hauptstadt. Dieses Foto mag einen bitteren Beigeschmack haben, dass die Flucht in die USA immer noch die einzige Hoffnung der Kubaner auf ein besseres Leben ist. Vor allem aber ist das Bild eine geniale Momentaufnahme und steht sinnbildlich für ein Land Land, das sich zwischen Sozialismus und freier Marktwirtschaft in den nächsten Jahren und Jahrzehnten neu erfinden muss.

Ich selbst habe mich bei meinem Besuch 2010 in Kuba ähnlich wie Eva-Maria Fahrner-Tutsek nicht von den schönen alten Autos und von dem für Touristen so faszinierenden Glanz vergangener Tage, der überall in der Stadt Havanna zu sehen und zu spüren ist, blenden lassen: Die Umstände, unter denen die Menschen dort leben müssen, sind alles andere als angenehm und erfreulich. Doch die Kuba wissen schon seit jeher, wie sie ihre Sorgen für einen Moment vergessen können: Mithilfe der Salsa-Musik, die den Puls der Stadt bestimmt und die an jeder Ecke zu hören ist. Spontan versammelten sich 2010 untertags immer wieder Menschen mitten auf den Straßen Havannas zum gemeinsamen Tanz. Als ich damals nach Kuba reiste, hatte ich gerade eine schwierige, sehr anstrengende Prüfungsphase am Ende meines Studiums hinter mir. Ich habe durch das Salsa tanzen einen Weg gefunden, mich selbst und meinen Körper auf eine ganz andere Art und Weise wahrzunehmen und zu spüren. Den Beginn dieser zweiwöchigen, nicht enden wollenden Serie an Glücksgefühlen markierte ein einstündiger Salsa-Tanzkurs in Havanna. Bis heute bin ich sehr dankbar für die Erfahrungen, die ich dank der Salsa-Musik in einem Land, das sich tief in meine Seele eingebrannt hat, machen durfte. Zum Schluss meines heutigen Adventsgeflüster-Türchen noch einige Fotos, die ich damals in Havanna gemacht habe:

EVA-MARIA FAHRNER-TUTSEK

Havana Short Shadows
Fotografie
HAVANA SHORT SHADOWS

Fotografischer Essay von Eva-Maria Fahrner-Tutsek mit einem Vorwort der Fotografin, einem poetischen Text des kubanischen Autors Leonardo Padura (»Die Stadt und der Schriftsteller: Ein möglicher Dekalog«) und einem Essay des renommierten Fotografen und Theoretikers der Fotografie Michael Freeman (»Dokumentation und Subjektivität«)

Hirmer Verlag, München

164 Seiten, 60 Abbildungen in Farbe, Format 30 x 24 cm, gebunden, Text: Deutsch, Englisch, Spanisch
EUR 29,90
ISBN 978-3-7774-3098-0

Mehr über die Alexander Tutsek-Stiftung:

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