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Adventsgeschichtenflüsterei

Seit meiner Kindheit ist der Advent die schönste Zeit für mich im Jahr – vor allem deshalb, weil ich dann meine Lieblingsweihnachtsbücher und -geschichten wieder zur Hand nehmen kann…

         1. Sybil Gräfin Schönfeldt: „Kinderweihnacht“

Der Advent begann für mich als Kind jedes Jahr mit demselben Ritual: Meine Eltern, mein Bruder und ich saßen um den Adventskranz herum und wir lasen uns abwechselnd aus dem Kalenderbuch „Kinderweihnacht“ von Sybil Gräfin Schönfeldt vor. Diese einzigartige Sammlung an Gedichten, Geschichten und Liedern rund um die Weihnachtszeit hat meine literarische Bildung maßgeblich beeinflusst und begleitet mich bis heute jedes Jahr aufs Neue durch meine Lieblingszeit des Jahres.

Noch ist Herbst nicht ganz entflohn,
Aber als Knecht Ruprecht schon
Kommt der Winter hergeschritten,
Und alsbald aus Schnees Mitten
Klingt des Schlittenglöckleins Ton.

Und was jüngst noch, fern und nah,
Bunt auf uns herniedersah,
Weiß sind Türme, Dächer, Zweige,
Und das Jahr geht auf die Neige,
Und das schönste Fest ist da.

Tag du der Geburt des Herrn,
Heute bist du uns noch fern,
Aber Tannen, Engel, Fahnen
Lassen uns den Tag schon ahnen,
Und wir sehen schon den Stern.

Mit Theodor Fontanes Gedicht „Noch ist der Herbst nicht ganz entflohn“ beginnt das 1991 im Ravensburger Verlag erschienene Buch mit den wunderbaren Illustrationen von Julian Jusim. Die Weihnachtszeit beginnt hier an Sankt Martin am 11. November und reicht bis zum Dreikönigstag am 6. Januar. Gedichte von Matthias Claudius und Christian Morgenstern finden sich in dieser Sammlung ebenso wieder wie das Adventslied „Fröhlich soll mein Herze springen“ oder ein Brief von Vincent van Gogh an seinen Bruder Theo, in dem er sich für einen Nikolausgruß bedankt. Ein Kalendereintrag ist mir bis heute ganz besonders in Erinnerung geblieben: Am 28. Dezember, dem Tag der unschuldigen Kinder, sind in diesem Weihnachtsbuch zwei Briefe aus dem weltberühmten Tagebuch der Anne Frank zu lesen. Der eine Brief ist datiert auf den 22. Dezember 1942, der andere auf den 24. Dezember 1943. „Glaub mir, wenn man eineinhalb Jahre eingeschlossen sitzt, kann es einem an manchen Tagen mal zuviel werden, ob es nun berechtigt oder undankbar ist. Gefühle lassen sich nicht zur Seite schieben. Radfahren, tanzen, pfeifen, die Welt sehen, mich jung fühlen, wissen, dass ich frei bin – danach sehne ich mich.“ Als junges Mädchen war ich beeindruckt von der Kraft dieser Worte und von Anne Franks tragischem Schicksal, über das mich meine Eltern aufklärten.

Sibyl Gräfin Schönfeldts Weihnachtsbuch hat mein Interesse für Literatur geweckt und meine Phantasie beflügelt, weil es mich mit Geschichten, Gedichten und Liedern konfrontiert hat, die mich in meinem jungen Alter forderten. Schade, dass dieses Meisterwerk der Kinderliteratur nicht mehr neu aufgelegt wird – wohl auch, weil es in unserer schnelllebigen heutigen Zeit an der Muße für die gemeinsame tägliche Lektüre mit den Eltern fehlt.

Ich schenk dir was! 
Was ist denn das?
Ein silbernes Wart-ein-Weilchen 
und ein goldenes Nixchen
in einem niemalenen Büchschen. 

Des Knaben Wunderhorn

 2. Janosch: „Der alte Mann und der Bär“ 

©Diogenes

Ich entdeckte Janoschs berührende Geschichte über den alten Mann und den Bär vor einigen Jahren, als ich das Programm für eine Weihnachtslesung zusammenstellte. Die Figuren von Janosch wie die Tigerente und der Bär waren die Helden meiner frühesten Kindheit und die ARD-Sendung Janoschs Traumstunde mein Ritual vor dem Einschlafen im Alter von fünf Jahren.

Der alte Mann in dieser traurigen und zugleich wunderschönen Geschichte wohnt in einer Hütte außerhalb des Dorfes, sammelt Pilze und Beeren im Wald und spart sein Geld, um vor Weihnachten im Nachbardorf von einem Vogelhändler so viele Vögel zu kaufen, wie er sich leisten kann – nur um sie bald wieder in die Freiheit zu entlassen. Als der alte Mann immer älter wird und einen schwachen Hänfling zum halben Preis erwirbt, hilft ihm ein Bär in dessen warmer Höhle, das Leben des Vogels zu retten. Während der alte Mann in diesem Winter stirbt, bitten der Bär und der Hänfling im Winter darauf vergeblich am Weihnachtstag vor der Kirchentür des Dorfes um Hilfe gegen die schneidende Kälte…

Das Ende dieses ganz besonderen Erzählung hat mich auf der Bühne einmal so zu Tränen gerührt, dass ich die Geschichte kaum zu Ende vorlesen konnte. Dieses moderne Märchen ist ein bewegender Appell an Jung und Alt für mehr Menschlichkeit und Solidarität.


        3. Tove Jansson: „Der Tannenbaum“ 

Quelle: tinyyokum.blogspot.fi

Die Mumin-Familie lernte ich in meiner Kindheit durch die polnisch-österreichische Puppenanimations-Reihe Die Mumins kennen. Besonders Mumin selbst, ihre Freundin und Bewunderin Snorkfräulein sowie die liebenswerte, immer tolerante Muminmama und der unternehmungslustige, unerschrockene Muminpapa hatten es mir sehr angetan.

Über zwanzig Jahre später besuchte ich im Sommer 2014 die umfassende Ausstellung über die Schöpferin der Mumins, Tove Jansson, in Helsinki. Anlässlich des 100. Geburtstag der finnischen Schriftstellerin, Zeichnerin, Ilustratorin und Malerin zeigte das Kunstmuseum Ateneum, dass die künstlerische Schöpfungskraft der bekanntesten Autorin des Landes weit über die Erschaffung der Mumin-Figuren hinaus reichte. So illustrierte Jansson nicht nur ihre eigenen Bücher, sondern auch unter anderem Der Hobbit von J. R. R. Tolkien sowie Alice im Wunderland von Lewis Carroll. Darüber hinaus arbeitete sie als Malerin und veröffentlichte 1968 das autobiographische Buch Die Tochter des Bildhauers.

Illustration zu „Alice im Wunderland“ von Lewis Carroll, ©moomin.com
©moomin.com

1947 zeichnete Tove Jansson ihren ersten Mumin-Comic, 1970 erschien ihr mit „Herbst im Mumintal“ ihr letztes Mumin-Buch. Ich habe die Mumins seit jeher für ihre anarchische, humorvolle Art und Weise, ihr Leben zu gestalten und ihrer Fähigkeit, aus jedem einzelnen Tag ein Abenteuer zu machen, geliebt. Eine meiner liebsten Weihnachtsgeschichten überhaupt habe ich erst als Erwachsene 2008 auf ZEIT ONLINE entdeckt: In „Der Tannenbaum“ verschläft die Muminfamilie fast das wichtigste Fest des Jahres, während die Bewohner des Trollwaldes in heller Aufruhr sind.

„Mutter, wach auf“, sagte Mumin erschrocken. „Irgendwas Schreckliches ist passiert. Sie nennen es Weihnachten.“

Ist es eine Überschwemmung, dieses „Weihnachten“? Und was soll das überhaupt mit den ganzen Geschenken? Lest selbst, wie die Mumins aus dem Winterschlaf erwachen und das Fest der Feste gemeinsam begehen:

http://www.zeit.de/2008/48/KI-Mumin-Tannenbaum

©moomin.com

             4. Gunnar Gunnarsson: „Advent im Hochgebirge“

©Reclam-Verlag

Diese Geschichte einer besonderen Adventswanderung erschien 1936 erstmals in deutscher Sprache im Reclam-Verlag. Der isländische Dichter Gunnar Gunnarsson (1889-1975) hatte mit der Kurzgeschichte Den gode Hyrde (Der gute Hirte), die 1931 in der Zeitschrift Julesne erschien, den Grundstein zu seiner Novelle Advent im Hochgebirge gelegt. Die Erzählung basiert auf den Erinnerungen von Benedikt Sigurjónsson, der sich einst im isländischen Hochland Mývatnsöræfi auf eine eine gefährliche Schafsuch-Aktion begeben hatte.

Gunnarsson schildert in Advent im Hochgebirge in poetischen Bildern, wie sich Benedikt gemeinsam mit seinem Hund Leo und dem Leithammel Knorz auf den Weg ins Hochgebirge macht, um einzelne, verirrte Schafe, die nicht seine eigenen sind, vor dem Hunger- und Kältetod zu bewahren. In diesem besonders eiskalten, frostigen Winter trifft das Trio anfangs noch ab und an auf andere Menschen, die Benedikts Einsatz für die fremden Schafe nicht nachvollziehen können. Bald muss die kleine Gruppe den rauen Naturgewalten des isländischen Winters jedoch alleine trotzen.

© http://www.skriduklaustur.is/

Diese Novelle ist ein Plädoyer zur Rückbesinnung auf Tugenden wie Freundschaft, Toleranz und Mitmenschlichkeit in einer Zeit, in der Durchsetzungsfähigkeit und Egoismus das Berufs- und Privatleben vieler Menschen bestimmen.

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Ich vermisse die Zeit, als ich mit meinen Eltern und meinem Bruder in der Vorweihnachtszeit um den Adventskranz saß und sich mir durch unbekannte Geschichten, Gedichte und Lieder ganz neue Welten eröffneten. Und ich beobachte nicht wenige Eltern, die um die 100€ für den Adventskalender ihres Kindes ausgeben. Weihnachtsmärkte werden mehr und mehr zu Eventlocations, die vom Konsumrausch getriebene Menschenmasse in den Innenstädten und Einkaufszentren lässt einen nur noch das Ende der „staaden Zeit“ herbeisehnen.

Ruhig und besinnlich war die Vorweihnachtszeit natürlich auch in meiner Kindheit nicht an jedem einzelnen Tag im Advent. Aber insbesondere meine Mutter hat sich die Zeit genommen, meinem Bruder und mir den Zauber des Weihnachtsfests durch die Literatur nahezubringen – dafür bin ich ihr unendlich dankbar!

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