Im Staatlichen Textil- und Industriemuseum Augsburg findet noch bis 25. Oktober 2020 eine außergewöhnliche Sonderausstellung statt: In Amish Quilts meet Modern Art treten originale Amish-Quilts aus der Zeit zwischen 1890 und 1950 in einen spannenden Dialog mit den Werken renommierter zeitgenössischer Künstler wie Manfred Mayerle, Urs Lüthi oder Julius von Bismarck.
Als ich an diesem Freitagvormittag im Augsburger Textilviertel ankomme, werden sofort Erinnerungen an die Bayerischen Theatertage in der Stadt im Jahre 2012 wach. Damals arbeitete ich als Studentin im Studiengang Kulturkritik an der Bayerischen Theaterakademie August Everding an einer täglich erscheinenden Festivalzeitung. Das erst zwei Jahre zuvor eröffnete Staatliche Textil- und Industriemuseum war eine der spektakulärsten Spielstätten im Rahmen der Theatertage – und mit seiner großen Terrasse ein idealer Ort, um unsere Festivalzeitung unter die Zuschauer zu bringen.
2010 wurde das Museum, das sich in einer Produktionshalle der ehemaligen Augsburger Kammgarn-Spinnerei in den Stadtbezirken Am Schäfflerbach und Wolfram- und Herrenbachviertel befindet, als erstes Landesmuseum in Bayerisch-Schwaben von der Stadt Augsburg und dem Bezirk Schwaben eröffnet und ist seither eine Einrichtung des Freistaates Bayern. Bis Anfang der 1960er Jahre waren in den damals etwa zwei Dutzend Spinnereien, Webereien und Textilveredelungsbetrieben der Fuggerstadt rund 17.500 Menschen beschäftigt. Diversen privaten, gewerkschaftlichen, vereinsmäßig organisierten und kommunalen Initiativen ist es zu verdanken, dass es 2001 zu einer Grundsatzvereinbarung der Stadt Augsburg, des Freistaats Bayern und des Bezirks Schwaben über die Gründung eines Textil- und Industriemuseums kam.
Neben einer Dauerausstellung auf einer großzügigen Fläche von 2.500 Quadratmetern im Untergeschoss, in der der Besucher die Entwicklung eines ganzen Industriezweiges rund um das Spinnen, Weben und Bedrucken von Stoffen in Bayern, Schwaben und der alten Reichsstadt Augsburg nachverfolgen kann, finden im Obergeschoss des Museumskomplexes wechselnde Sonderausstellungen statt, in denen die Verknüpfung von Vergangenheit und Gegenwart im Fokus steht und dem Museumsbesucher vollkommen neue Perspektiven rund um das Thema Textil eröffnet werden.
In seiner aktuellen Sonderausstellung Amish Quilts meet Modern Art, die noch bis 25. Oktober zu sehen sein wird, lädt das Textilmuseum seine Besucher ein, die Quilt-Kunst der in den USA und im kanadischen Ontario beheimateten täuferisch-protestantische Glaubensgemeinschaft anhand der direkten Gegenüberstellung mit ausgewählten Werken zeitgenössischer Künstler neu zu betrachten. Bis heute werden die Amish People als eine homogene, nach bäuerlichen Prinzipien organisierte Lebensgemeinschaft wahrgenommen, die den Errungenschaften der modernen Technik abschwört und fest in ihrem christlichen Glauben verwurzelt ist. Jedoch zeigt sich gerade in der traditionellen Quilt-Kunst die ganze Vielfalt und Diversität der amischen Kultur. Ein Fest aus Mustern, Formen und Farben sind die großen Zierdecken, die meist im Rahmen eines sozialen Ereignisses, des sogenannten „Quilting Bee“, von amischen Frauen anlässlich einer Geburt, einer Taufe oder einer Hochzeit hergestellt werden.
Ich bin fasziniert von der modernen Formensprache der Quilts mit ihrer oft ungewöhnlichen Anordnung von Streifen, Quadraten, Recht- und Dreiecken, die mich an so manches Werk aus der Bauhaus-Ära, die Klassische Moderne oder die Abstrakte Malerei eines Paul Klee erinnern. Die Grundlage der amischen Quilt-Kunst beruht auf dem Abbildungsverbot, das jede Form von Eitelkeit als Nachahmung Gottes wertet. Somit ist es den Amish People nicht nur verboten, sich filmen oder fotografieren zu lassen, sondern auch, Musik zu machen. Dadurch kommt den Quilts in ihrem Leben eine bedeutende Rolle zu, sagt der Leiter des Augsburger Textilmuseums, Dr. Karl Borromäus Murr. Denn sie seien der einzige Schmuck, mit dem man sich in dieser von der Aussenwelt abgeschotteten Gemeinschaft zieren dürfe. In einem Leben ohne Spiegel, ohne Bilder an der Wand und ohne Schmuck haben die Quilts als einzige mögliche künstlerische Ausdrucksform von außen betrachtet beinahe eine mystische Funktion.
Die bunten, kräftigen Farben und die Zusammenstellung der Farben, Materialien und Muster der Quilts in der Ausstellung Amish Quilts meet Modern Art bilden einen starken Kontrast zu der Kargheit und Schlichtheit des Alltags der Amish People. Die großen Steppdecken, die bis heute als Tagesdecke dienen, sich aber auch als Wandteppiche eignen, sind eine Leihgabe aus der Sammlung Wurzer, die eine bemerkenswerte Auswahl an historischen Amish Quilts aus der Zeit zwischen 1878 und 1950 umfasst. Schon beim Eintritt in die sich auf 1000 Quadratmetern erstreckenden Ausstellungsräume im Obergeschoss des Augsburger Textilmuseums wird klar, dass Amish Quilts meet Modern Art wesentlich mehr ist als eine Gegenüberstellung von traditioneller Handwerks- und zeitgenössischer Kunst. Es geht um die Grundfragen menschlicher Existenz – und vor allem um das Spannungsverhältnis zwischen dem sichtbaren Werk und seiner oft mehrdeutigen Aussage. Die thematische Gruppierung der historischen Quilts und der Werke renommierter zeitgenössischer Künstler wie Arne Quinze, Felix Weinold, Urs Lüthi, Julius von Bismarck, Sophia Süßmilch oder Manfred Mayerle in vierzehn Bereiche wie „Frieden und Krieg“, „Gemeinschaft und Individualismus“ oder „Gabe und Ware“ lassen den Betrachter über Werte und Tugenden wie Glaube, Nächstenliebe und Hoffnung reflektieren, die in unserer turbokapitalistischen Welt immer mehr in den Hintergrund treten.
Besonders beeindruckt hat mich bei meinem Besuch im Augsburger Textilmuseum die Werkreihe „Goldbergvariation“ des Künstlers Manfred Mayerle, der uns an diesem Vormittag zusammen mit seiner Galeristin Elka Jordanow durch die Ausstellung begleitete. „Was mich interessiert, ist das Überlagern der Linie und ihr Einbetten in Farbe sowie die neue Räumlichkeit und Tiefe, die durch Schichtung besteht“, sagt Mayerle, der in den Sammlungen wichtiger Museen wie der Pinakothek der Moderne in München, dem Münchner Lenbachhaus oder den Sammlungen vieler großer Banken und Privatsammlungen vertreten ist und seit den 1960er Jahren zudem rund 800 architekturbezogene Projekte wie die Ausgestaltung des Eingangsbereiches der Bischöflichen Finanzkammer Bamberg realisiert hat. Eine Farbe ist bei Mayerle nie einfach eine Farbe – durch die verschiedenen Abfolgen von Farbüberlagerungen entwickeln seine Gemälde im Kontext ihres jeweiligen Ausstellungsortes eine kraftvolle Tiefe, die ein sehr sinnliches Erleben seiner Werke ermöglicht. Nicht nur der Begriff „Farbe“, sondern auch der Begriff der „Linie“ hat für mich seit der Begegnung mit Mayerle und der Auseinandersetzung mit seiner Werkreihe „Goldbergvariation“, zu der er ihn die gleichnamige Clavierübung Johann Sebastian Bachs aus dem Jahr 1741 inspirierte, eine vollkommen neue Bedeutung bekommen.
Die sehr sehenswerte Schau Amish Quilts meet Modern Art im Augsburger Textilmuseum regt dazu an, noch einmal neu über die Struktur eines auf den ersten Blick chaotisch erscheinenden Werkes nachzudenken – und auf der anderen Seite nach den Brüchen innerhalb einer vermeintlichen Ordnung zu suchen.
Mehr Infos zu der Ausstellung:
Öffnungszeiten
Staatliches Textil- und Industriemuseum Augsburg (tim)
Dienstag bis Sonntag
9 – 18 Uhr
Montag geschlossen
Telefon (0821) 81001-50
nunó – Restaurant im tim
Dienstag bis Sonntag 10 – 17 Uhr
Montag geschlossen
Telefon (0821) 508 10 44
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