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Die Gegenwart begreifen: Das Ensemble Modern wird 40

Dietmar Wiesner ©Andreas Etter

Vor vierzig Jahren gründeten Mitglieder der Jungen Deutschen Philharmonie ein Ensemble, das bis heute Maßstäbe in der Interpretation zeitgenössischer Musik setzt: Das selbst verwaltete und basisdemokratisch organisierte Ensemble Modern begeistert sein Publikum seit 1980 durch seinen musikalischen Wagemut, seine Experimentierfreude und sein interdisziplinäres Denken. Eine Begegnung mit dem Flötisten Dietmar Wiesner, einem der Gründungsmitglieder.

„Wasser, Wasser, Wasser“: Wie ein rauschendes Klanggewitter ergießen sich die Worte in einem Video des Flötisten Dietmar Wiesner auf dem Youtube-Kanal des Ensemble Modern. Wenige Tage nach dem Corona-Lockdown veröffentlichte das Ensemble Modern am 25.03.2020 den Beitrag „Hands“: Wiesner hat das Mantra der Corona-Krise in rhythmische Klänge übersetzt. Inmitten all der derzeit zu spürenden Lockerungseuphorie wirkt es wie eine Mahnung, sich auch weiterhin des Ernstes der Lage bewusst zu sein.

Jedes einzelne Video Statement der Ensemble Modern-Mitglieder ist ein Kunstwerk für sich – und eine äußerst kreative und innovative Art und Weise, sich als Musiker mit der ungewohnten Situation im Home Office auseinanderzusetzen.

Es hätte kaum ein herausforderndes Jahr für ein großes Jubiläum geben können, als das Jahr 2020. Trotz der Corona-Krise setzt das Ensemble Modern derzeit alles daran, seinem Publikum anlässlich seines 40-jährigen Bestehens die ganze Bandbreite seiner musikalischen und künstlerischen Schaffenskraft zu präsentieren. 1980 hatte sich eine Gruppe Studierender der Jungen Deutschen Philharmonie zusammengeschlossen, um ihr Ideal von einem selbst verwalteten und organisierten Ensemble zu verwirklichen, das sich in Bezug auf seine Mitgliederzahl zwischen einem Kammermusikensemble und einem Orchester bewegen sollte. Heute, vierzig Jahre später, besteht das Ensemble Modern aus 20 Solistinnen und Solisten internationaler Herkunft, die alle Entscheidungen über Projekte, Koproduktionen und über die finanziellen Belange des Ensembles basisdemokratisch gemeinsam treffen. Eine weltweit einzigartige Arbeitsstruktur, die ohne einen künstlerischen Leiter auskommt.

Das Ensemble Modern © Vincent Stefan

„Natürlich ist die Coronakrise ein einschneidender Moment für uns – aber glücklicherweise sind wir als Ensemble immer sehr erprobt darin gewesen, unmittelbar auf unsere Gegenwart zu reagieren“, sagt Dietmar Wiesner, der als Gründungsmitglied die gesamte künstlerische Entwicklung eines Ensembles mit verfolgt hat. Seit vier Jahrzehnten steht es wie kein anderes für die Verbindung von musikalischem Wagemut und interdisziplinärer künstlerischer Experimentierfreude.

Zeit, um einen Blick in die musikalische Vergangenheit des Ensembles zu werfen.

Und in die Zukunft.

heim.spiele

„Unsere Namensgebung beruht eher auf einem Zufall. Wir waren eines von zahlreichen Ensembles, das sich damals innerhalb der Jungen Deutschen Philharmonie formierte. Unser Name hatte sich irgendwann so etabliert, dass man keine Anstalten mehr machen wollte, ihn zu ändern“, sagt Dietmar Wiesner. Ein Name, der wie ein Auftrag wirkt, immer wieder an die Grenzen zu gehen und sich nicht davor zu scheuen, unbekanntes musikalisches Terrain zu betreten.

Seit 1985 ist Frankfurt am Main die Heimat des Ensembles Modern. Die Musiker etablierten noch im selben Jahr eine bis heute bestehende, eigene Abonnementreihe in der Alten Oper und realisieren regelmäßig Opernproduktionen in Kooperation mit der Oper Frankfurt. Dort finden darüber hinaus seit 1993 Werkstattkonzerte unter dem Titel Happy New Ears statt, die dem Publikum mithilfe von Erläuterungen und Hintergrundinformationen einen intensiven Zugang zu zentralen Werken der zeitgenössischen Musik verschaffen.

„Als wir 1985 unsere Abonnementreihe in der Alten Oper starteten, zählten wir vielleicht zwischen 30 und 40 Abonnenten. Darunter waren zum Großteil Leute, die ein besonderes Interesse an Neuer Musik mitbrachten. Relativ schnell aber ist es uns damals gelungen, immer mehr Zuhörer in unsere Konzerte zu locken, die der für sie ungewohnten Musik mit einer großen Neugierde und Offenheit begegneten – unabhängig davon, ob sie zuvor schon einmal mit ihr in Berührung gekommen waren“, sagt Dietmar Wiesner. Mit Reinhard Oelschlegel, dem damaligen leitenden Redakteur des Deutschlandfunk für zeitgenössische Musik, hatte das Ensemble direkt zu Beginn einen sehr wichtigen Mentor und Förderer an seiner Seite. „Bereits unsere ersten Register- und Kammermusik-Proben konnten wir in den Deutschlandfunk-Studios machen. Wir hatten auch die Möglichkeit, unsere Proben direkt dort aufzunehmen, was uns in Bezug auf unsere musikalische Weiterentwicklung sehr half“.

Was einst als Experiment begann, wurde bald zu einem Heimspiel für das Ensemble Modern. Viele Jahre später präsentierte es zwischen Ende 2016 und Anfang 2017 in seiner Heimatstadt Frankfurt unter dem Titel ›heim.spiele‹! mehr als 20 Konzertveranstaltungen an verschiedenen Spielstätten.

auswärts.spiele

Wie sehr das Ensemble Modern immer wieder über den eigenen Tellerrand hinaus blickt, zeigt sich bereits bei seiner Besetzung: In diesem Mikrokosmos aus Nationalitäten und Generationen verbindet sich das künstlerische Talent von 20 Solistinnen und Solisten aus Belgien, Bulgarien, Deutschland, Griechenland, Indien, Israel, Japan, den USA und der Schweiz zu einer musikalischen Einheit. Tourneen und Gastspiele führten das Ensemble Modern in den vergangenen Jahrzehnten zu renommierten Festivals und herausragenden Spielstätten in aller Welt: Unter anderem war es bei den Berliner und den Bregenzer Festspielen, im Concertgebouw Amsterdam, in der Elbphilharmonie Hamburg, beim Festival d’Aix-en Provence und beim Holland Festival oder in der Wigmore Hall London auf der Bühne zu erleben.

Mich hat vor allem dieser Videomitschnitt eines Konzerts des Ensemble Modern im Rahmen des „OpenMicFest“, des bekanntesten Musikfestivals Gambias, beeindruckt. Ende Dezember 2019 fand es als Gemeinschaftsprojekt in Kooperation mit dem Musikfestival „AfriCourage“ im Nationalstadion der gambischen Hauptstadt Banjul statt.

Das Ensemble Modern setzte nicht nur mit diesem Auftritt ein Zeichen für mehr Diversität auf den Spielplänen europäischer Konzerthäuser: Für das Konzert und Symposium ›Afro-Modernism in Contemporary Music‹, das am 12. und 13.11.2020 im Haus der Deutschen Ensemble Akademie in Frankfurt am Main stattfinden wird, hat es den an der New Yorker Columbia University lehrenden Komponisten und Posaunisten George E. Lewis als ausgewiesenen Kenner des facettenreichen Schaffens der sogenannten „Composers of Color“ gewinnen können.

neue.klang.spiele

Ich spreche mit Dietmar Wiesner über einen Artikel in der ZEIT, der sich vor 10 Jahren mit einer Studie von Neuro- und Musikwissenschaftlern in Bezug auf die Frage beschäftigte, warum zeitgenössische klassische Musik oft nur von einer Minderheit als aufregend wahrgenommen wird. „Wir können Neue Musik besser verstehen, wenn wir sie häufiger hören – sie ist aber so komponiert, dass sie die meisten Menschen nicht dazu anreizt, sie häufiger zu hören“, sagte Eckart Altenmüller von der Hochschule für Musik und Theater in Hannover damals. „Zeitgenössische Musik mag auf den ersten Blick sehr komplex wirken. Doch entgegen der Aussage von Eckart Altenmüller ist sie durchaus dazu bestimmt, öfter als einmal gehört zu werden – vor allem live“, meinte Dietmar Wiesner. „Denn je mehr man sich mit Neuer Musik auseinandersetzt, desto umso mehr wird man sie begreifen und seine Freude daran haben. Der Reiz besteht für mich darin, die theatralischen Momente und die Energie im Raum auf sich wirken zu lassen und die Musiker dabei zu beobachten, wie sie untereinander ihre klanglichen Netzwerke spinnen“.

Für Wiesner kommt es weniger darauf an, ob sich ein Ensemble grundsätzlich der Alten oder der zeitgenössischen Musik verschreibe, sondern vielmehr darauf, wie es die ihm zu Grunde liegenden Werke für sich neu zu interpretieren wisse. „Der besondere Wagemut des Ensembles Modern bestand in erster Linie darin, sich in voller Gänze der Aufführung von Werken zu verschreiben, die man unter dem Oberbegriff „Neue Musik“ zusammenfassen kann. Darüber hinaus gab es jenseits davon in der Vergangenheit immer wieder auch andere Komponisten, die wir jenseits davon als spannend für unser Ensemble erachtet haben. Ich denke da zum Beispiel an die Zusammenarbeit mit Frank Zappa zu seinem letzten Album „The Yellow Shark“ 1992 oder unsere musikalischen Begegnungen mit Free Jazzern. Ich war überglücklich, als wir mit dem Ensemble die Möglichkeit hatten, zwei Projekte mit zwei Größen der Szene, Ornette Coleman und Anthony Braxton, zu realisieren“.

kompositions.spiel.räume

Je nach Thema entscheidet sich das Ensemble für eine projektbezogene künstlerische Leitung aus einem renommierten internationalen Pool an Dirigent*innen, Musiker*innen, Expert*innen. In enger Zusammenarbeit mit den Komponistinnen und Komponisten interpretiert es jedes Jahr durchschnittlich 70 Werke neu und präsentiert seinem Publikum rund 20 Uraufführungen. Über die Jahrzehnte hinweg ergaben sich eine außergewöhnlich intensive und oftmals langjährige Zusammenarbeit mit Komponisten wie Mark Andre, Peter Eötvös, Heiner Goebbels, Mauricio Kagel, György Ligeti, Olga Neuwirth, Enno Poppe oder Karlheinz Stockhausen sowie mit herausragenden Künstlerpersönlichkeiten anderer Kunstsparten wie der Choreographin Sasha Waltz oder dem Lyriker Nico Bleutge.

Neben den zeitgenössischen Musikern gibt es auch diverse klassische Komponisten wie Ludwig van Beethoven, deren Werke viel Spielraum zur Neuinterpretation bieten. „Das beste Beispiel dafür sind die ’33 Veränderungen über 33 Veränderungen‘ des Komponisten Hans Zender“, meint Dietmar Wiesner. „Er hat Beethovens Diabelli-Variationen nicht nur bearbeitet, sondern sie vielmehr auf eine ganz eigene Art und Weise kompositorisch nachempfunden“.

zusammen.spiel

Abgesehen von der virtuosen Beherrschung seines oder ihres Instruments müsse ein Musiker oder eine Musikerin eine extreme Offenheit an den Tag legen, die weit über seine instrumentalen Fähigkeiten hinausgeht, so Dietmar Wiesner. Über eine Neuaufnahme in das Ensemble entscheiden die Mitglieder in 2/3-Mehrheit. Das Grundprinzip, auf dem die Kommunikation innerhalb des Ensemble Modern basiere, sei der Respekt vor dem Gegenüber: „Nur so ist es möglich, konstruktive Kritik zu äußern. Über die Jahre hinweg haben wir Musiker gelernt, uns auf sehr pragmatische und respektvolle Art und Weise gegenseitig zu hinterfragen. Das schließt für uns auch mit ein, dass nicht jede Form von Unbehagen sofort immer in der großen Runde kommuniziert werden muss“.

Probe und Konzert des Ensemble Modern mit „The Yellow Shark“ von Frank Zappa unter der Leitung von Jonathan Stockhammer im Großen Saal der Elbphilharmonie in Hamburg im Februar 2020 © Wonge Bergmann

bühnen.spiel

Eine der prägendsten und wichtigsten Arbeiten des Ensemble Modern war die Produktion „Schwarz auf Weiß“, die den Begriff des Musiktheaters 1995/96 revolutionieren sollte: In enger Zusammenarbeit mit dem Ensemble Modern entwickelte der Komponist und Regisseur Heiner Goebbels ein Stück, in dem die Musiker als Hör-Spieler zusammen mit ihren Instrumenten den Bühnenraum eroberten und diese auch gegen andere Instrumente oder signifikante Geräuschquellen austauschten. Nicht nur für das Publikum war „Schwarz auf Weiß“ eine musikalische Bewusstseinserweiterung: „Heiner Goebbels ist es gelungen, Dinge in einem freizusetzen, von denen man davor überhaupt nicht wusste, dass sie in einem stecken. Dass das ganze Ensemble als Protagonist auftrat – ohne Solisten, ohne Schauspieler – war eine extrem starke Setzung. Hier spielten die Musiker nicht nur virtuos auf ihren jeweiligen Instrumenten, sondern gestalteten das Bühnengeschehen aktiv mit. Daraus entstand einerseits eine große Verantwortung – und andererseits eine vollkommen andere Art der Spiellust“. Am 16. Mai wird es um 20 Uhr ein Online-Screening der legendären Inszenierung inklusive einer Einführung von Heiner Goebbels geben:

Dietmar Wiesner in Heiner Goebbels 1996 uraufgeführten Musiktheaterwerk „Schwarz auf Weiß“ © Christian Schafferer

Auch die Choreographin Sasha Waltz ließ das Ensemble Modern 2008 in ihrem musikalisch-choreographischen Projekt ›Jagden und Formen (Zustand 2008)‹ gemeinsam mit ihren Tänzern auf der Bühne agieren. Der Komponist Wolfgang Rihm nannte seine Komposition ›Jagden und Formen‹ in der damals aktuellen Fassung »Zustand 2008«.

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„Entgrenzen I Öffnen neuer Begegnungsräume“ lautet einer von sieben Leitsätzen in Bezug auf das Jubiläumsjahr des Ensemble Modern 2020. Derzeit gelingt es den 20 Musikern auf sehr eindrucksvolle, individuelle Art und Weise, sein Publikum im digitalen Raum zu erreichen.

„Wir freuen uns sehr über das positive und unterstützende Feedback, das wir auf unser Videotagebuch und auf unsere wöchentliche digitale Live-Konzertreihe ‚On Air. Ensemble Modern live aus dem Dachsaal‘ bekommen“, sagt Dietmar Wiesner, der seine positive Grundeinstellung trotz der vielen Konzertabsagen in den vergangenen Wochen nicht verloren hat. „Ich glaube, dass das Thema Streaming aus so manchen Denkräumen, in denen man sich mit Neuer Musik beschäftigt, in Zukunft nicht mehr wegzudenken ist“.

Für seinen eigenen Live-Auftritt im Dachsaal wählte Dietmar Wiesner übrigens unter anderem die „Szene für Teekessel und Piccoloflöte“ aus Heiner Goebbels Produktion „Schwarz auf Weiß“ aus.

zukunfts.spiele

„Ich finde es sehr schön, dass sich im Bereich der klassischen Musik derzeit so viel bewegt! Das hängt vor allem damit zusammen, dass die jungen Musiker heute vollkommen anderes ausgebildet werden, als noch zu meinen Zeiten. Anstatt eines homogenen, monolithischen Kunstverständnisses – an meiner Hochschule wurde zum Beispiel nur ein romantischer Ansatz gelehrt – haben die Studierenden heute die Möglichkeit, ihren musikalischen Horizont im Rahmen zahlreicher Masterstudiengänge um ein Vielfaches zu erweitern“.

Um ihren Teil zu dieser künstlerischen Bewusstseinserweiterung junger Menschen beizutragen, gründete das Ensemble 2003 die Internationale Ensemble Modern Akademie. Ein wichtiger Schwerpunkt ist das Ensemblespiel. „Wir achten darauf, dass die Anzahl der Stipendiaten in etwa ein Ensemble von unserer eigenen Größe abbildet. Dazu verpflichten wir darüber hinaus noch einen Komponisten, einen Dirigenten und einen Tonmeister im Rahmen unseres Stipendiaten-Programms. Der zweite Schwerpunkt der Ausbildung liegt im Individual-Unterricht: Dieser gestaltet sich allerdings so, dass jeder der Musiker die Möglichkeit hat, von jedem von uns unterrichtet zu werden“, so Dietmar Wiesner.

Als ich Dietmar Wiesner am Ende unseres Gesprächs frage, was ihn heute – 50 Jahre, nachdem er begann, die Flöte zu spielen – noch immer so an seinem Instrument fasziniert, gibt er mir die schönste Antwort überhaupt:

„Diese Momente zu erleben, wo der Atem sich frei bewegt zwischen Ein- und Ausatmen. Es sind beglückende Augenblicke, in denen man keine Hürden und keine Blockade beim Spielen verspürt. Sie sind sehr selten und darum umso kostbarer“.

Lieber Herr Wiesner, ich danke Ihnen für den spannenden Einblick in die Arbeit des Ensemble Modern! Ich hoffe, dass Ihre Kollegen und Sie bald wieder im analogen Raum mit Ihrem Publikum vereint sein dürfen. Alles Gute zum 40. Geburtstag und auf die nächsten 40 Jahre voller musikalischer Experimente und Neuentdeckungen! 


Weitere Informationen über das Ensemble Modern: 

https://www.ensemble-modern.com/

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Twitter @ensemblemodern

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