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Faces for the Names

Felix Zernik

Wenn sich das eigene Haus in eine Gedenkstätte für die Opfer der Shoah verwandelt: Mit ihrer Aktion „Faces for the Names“ etablieren Terry Swartzberg und der Motion Designer Julian Giebelen eine ganz eigene, unmittelbare Form von Erinnerungskultur, indem sie die Fotos der jüdischen Frauen und Männer an die Wände ihrer ehemaligen Wohnhäuser in München projizieren.

Ein Rückblick auf einen sehr bewegenden Abend in der Agnesstrasse 10, 14 und 59.

Alles begann Ende April mit einem Zettel in meinem Briefkasten. Darauf lud der Verein „Jews Engaged with Society“ die Bewohnerinnen und Bewohner der Agnesstrasse 10, 14 und 59 ein, Teil einer außergewöhnlichen Gedenkaktion zu werden: Zwischen 26. April und 4. Mai 2022 projizieren Terry Swartzberg und der Künstler Julian Giebelen Fotos der Opfer des NS-Terrors und von Widerstandskämpfer:innen aus dem Stadtbezirk Schwabing-West an diejenigen Häuser in München, die bis zu Beginn der 1940er Jahre ihr Lebensmittelpunkt waren.

Dr. Robert Mand

Rund ein Dutzend Interessierte waren am 29.04.2022 zu der für mich eindrucksvollsten Gedenkveranstaltung meines bisherigen Lebens gekommen. Als mir Terry Swartzberg anbot, die Namen und Biographien der zehn Personen aus der Agnesstrasse zu verlesen, die zur Zeit des Nationalsozialismus in verschiedene Konzentrationslager deportiert und dort ermordet wurden, fiel es mir schwer, die Fassung zu bewahren. Schließlich überlebte keiner der jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner des Hauses in der Agnesstrasse 10 die Shoah.

2000 Jüdinnen und Juden wohnten zum Zeitpunkt der Machtergreifung in Schwabing-West. Die Vertreibung aus den Häusern in ihrem Stadtbezirk und ihre Ermordung ließ sie aus dem allgemeinen Bewusstsein der Bevölkerung verschwinden – bis Terry Swartzberg und Julian Giebelen ihnen nun, 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, durch ihr Engagement ein Stück ihrer Identität und Menschenwürde zurückgaben.

Der 1953 in Connecticut geborene US-amerikanische Ethical Campaigner, ehemalige Wirtschaftsjournalist und Wahlmünchner Terry Swartzberg leistet mit der Aktion „Faces for the Names“ nicht nur einen sehr wichtigen Beitrag zur historischen Aufarbeitung in einer Stadt, die sich seit jeher schwer tut mit dem öffentlichen Gedenken an die Zeit des Nationalsozialismus. Terry, der 2011 den Verein Initiative Stolpersteine für München gründete und sich im Vorstand der Münchner Liberalen Jüdischen Gemeinde Beth Shalom engagiert, wo er als Projektleiter für den Bau einer Synagoge im Stadtteil Lehel nach Plänen von Daniel Libeskind verantwortlich ist, gelingt es durch seine herzliche, offene Art auch, für eine stärkere Vernetzung zwischen Menschen verschiedener Weltanschauungen und Konfessionen zu sorgen.

Swartzberg, der rund 25 Jahre als Korrespondent für die International Herald Tribune tätig war, machte in den vergangenen Jahren vor allem durch seinen Kippa-Selbstversuch deutschlandweit auf sich aufmerksam. Im Dezember 2012 begann Swartzberg sein Toleranzexperiment, über das unter anderem der Bayerische Rundfunk berichtete- Egal ob beim Spazierengehen, in der Arbeit oder beim Einkaufen: Die Kippa war ab diesem Zeitpunkt der ständige Begleiter dieses umtriebigen Kämpfers für Menschenrechte und Gleichberechtigung. Entgegen erster Befürchtungen erlebte Swartzberg nie Anfeindungen, sondern durchwegs positive Reaktionen auf sein Experiment – und das, obwohl die Zahl antisemitischer Straftaten in Bayern in den letzten Jahren stetig zugenommen hat und 2021 binnen eines Jahres um mehr als 44 Prozent auf 510 registrierte Fälle anstieg.

Die Kunstaktion „Faces for the Names“, die Swartzberg zusammen mit dem Motion Designer Julian Giebelen entwickelte, fand im vergangenen Jahr bereits in anderen Münchner Stadtteilen wie im Lehel, in Haidhausen oder in Untergiesing-Harlaching statt. Dem Verein Jews Engaged with Society, in dem sich Juden, Muslime, Christen und Angehörige anderer Religionsgemeinschaften für mehr Demokratie und für eine Gesellschaft ohne Antisemitismus, Hass und Ausgrenzung einsetzen, geht es dabei unter anderem darum, den Opfern der Shoah ihren Platz inmitten unserer Gesellschaft zurückzugeben.

12.000 jüdische Bürgerinnen und Bürger lebten bis 1933 in München. Auf die nationalsozialistische Machtergreifung hin folgten unmittelbar im Januar 1933 massive Repressionen, gefolgt von den Nürnberger Gesetzen 1935 und der systematischen Vernichtung der europäischen Juden ihr Ende fanden. 1936 zählte die jüdische Gemeinde in München nur noch 9000 Mitglieder, bereits zwei Jahre später hatte sich ihre Zahl halbiert.

Viele Münchner Juden wurden in den folgenden Jahren in sogenannte „Judenlager“ am Rande der Stadt München gebracht – unter anderem aus dem Deportationslager Milbertshofen im Münchner Stadtteil Am Hart, das ab 1941 der Internierung von Menschen jüdischen Glaubens diente. Als Zwangsarbeiter mussten die Männer und Frauen vor ihrer Deportation in verschiedenen Betrieben Zwangsarbeit leisten. Von etwa 3000 Münchner Juden ist bekannt, dass sie zwischen Juni 1942 und 23. Februar 1945 deportiert und zu einem großen Teil ermordet wurden – viele von ihnen landeten im Konzentrationslager Kaunas in Litauen und im Theresienstädter Ghetto. Am 30. April 1945 fanden die amerikanischen Befreier nur noch 84 überlebende Juden in München vor.

In den Augen der Männer und Frauen, deren Fotos an jenem Freitagabend am 29.04.2022 in der Agnesstrasse auf die Häuserwände projiziert wurden, lässt sich die dunkle Vorahnung in Bezug auf ihre Zukunft ablesen. Die meisten Fotografien, die Swartzberg und Giebelen für ihre Gedenkaktion verwendeten, fanden sie im Münchner Stadtarchiv, das im Jahr 2020 ein biographisches Gedenkbuch der Münchner Juden von 1933 – 1945 einrichtete. Ein Großteil der Bilder entstammt dem Fundus aus Meldekarten oder sogenannten ”Kennkartendoppeln”, die von allen Juden vor ihrer Deportation angefertigt wurden – abgestempelt jeweils mit einem Hakenkreuz. Wo immer es möglich ist, versucht Giebelen Kontakt zu Hinterbliebenen aufzunehmen, um an Fotomaterial der Ermordeten aus besseren Tagen zu gelangen – doch oft bleibt Swartzberg und ihm nur dieses einzige fotografische Dokument eines menschlichen Lebens.

In Erinnerung an die Frauen und Männer aus meinem Haus in der Agnesstrasse 10, deren Schicksal ich in den kommenden Monaten genauer erforschen werde.

Babette und Siegfried Adler
Babette wurde am 08.02.1884 in München geboren. Am 27.03.1905 heiratete sie den 1905 in Aschaffenburg geborenen Bankbeamten Siegfried Adler. Sie wohnten zwischen 1915 und 1939 in der in der Agnesstraße. Siegfried und Babette wurde am 04.04.1942 aus München nach Piaski deportiert und dort ermordet.

Clotilde und Melanie Katz
Die Schwester waren als „Die singenden Schwestern Keller“ sehr bekannt in München, betätigten sich als Opernsängerinnen und gaben Konzerte. Melanie wurde 1873 geboren, Clotilde, 1881. Sie wohnten zwischen 1917 und 1940 in der Agnesstraße 10. Am 04.04.1942 wurde Clotilde nach Piaski deportiert und dort ermordet. Melanie wurde am 24.06.1942 aus München nach Theresienstadt deportiert und dort ermordet.

Getrud Fanny Lewin
Gertrud wurde am 27.05.1911 geboren. Am 07.11.1934 heiratete sie Rudolf Martin Lewin. Das Ehepaar hatte zwei Kinder, Hans und Michael. Gertrud war von Beruf Stenotypistin. Rudolf gelang Mitte März 1939 die Emigration nach London – er starb im Januar 1992 in Haifa, Israel.

Die geplante Emigration von Gertrud Lewin und ihren Söhnen schlug fehl. Sie wurde gemeinsam mit ihnen am 25. November 1941 ins KZ Kaunas deportiert und dort ermordet.

Dr. Ing. Robert Mand
Robert wurde am 23.09.1880 geboren. 1916 heiratete er die Kauffrau Rosina Ottilie Frank. Die Ehe galt als Mischehe. Das Ehepaar hatte einen Sohn, Robert Eugen Josef. Roberts Vater Eugen Mandelbaum (1848-1906) betrieb mit seinem Bruder Gustav in der Klenzestraße 57 die von ihrem Vater gegründete Fa. „Jakob Mandelbaum“ – eine Leder- und Polsterwarengroßhandlung – sowie eine Treibriemen-, Leder- und Riemenfabrik.

Robert Mand wohnte viele Jahre in dem von seinem Vater 1890 erworbenen Haus Gärtnerplatz 4, dessen Miteigentümer Robert Mand mit seinen Geschwistern nach dem Tod der Mutter seit 1915 war. Die Kinder erbten auch das Haus Klenzestraße 57. Robert Mand studierte an der TH München und an der Universität Kiel. Er nahm 1914-1918 als Leutnant der Landwehr im Regiment 242 am Ersten Weltkrieg teil.

Sohn Robert wurde in Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) in der Türkei geboren. Dort betrieb Ehefrau Rosina bis Anfang 1919 den „Deutschen Bazar“. Vor seiner Heirat mit der Katholikin war Robert Manddelbaum aus dem Judentum ausgetreten und am 02.08.1916 in der Kirche St. Peter katholisch getauft worden. Seit Januar 1919 war die Familie wieder in München wohnhaft. Die Familie änderte den Namen 1923 offiziell in „Mand“.

Robert Mand betrieb zuletzt in der Gentzstraße 4 einen Großhandel mit Maschinen, Handel mit Chemikalien und einem chemischen Laboratorium. Überdies erstellte er Gutachten bei technischen Beratungen und bot Ausarbeitungen von chemischen Verfahren an. Seine nicht-jüdische Ehefrau ließ sich 1934 von ihm scheiden.

Robert Mand kam am 23.07.1942 mit Transport II/18 nach Theresienstadt. Von den insgesamt 50 Personen dieser Deportation überlebten 14 die Shoah. Er wurde am 28.10.1944 weiter nach Auschwitz deportiert und ermordet.

Max Sinsheimer
Max war ein Kaufmann. Er wurde am 14.04.1884 geboren. Am 20.11.1941 wurde er aus München nach Kaunas deportiert, wo er am 25.11.1941 ermordet wurde.

Max Sinsheimer

Felix, Bella und Harald Zernik
Felix wurde am 01.12.1894 geboren. Am 10.06.1924 heiratete er Bella. Ihr Sohn Harald wurde am 30.07.1928 geboren. Felix betrieb seit 1924 eine Provisionsvertretung in der Agnesstraße 10/II.

Im Frühjahr 1939 bemühte sich die Familie vergeblich um Emigration nach Australien, auch die Bemühungen um Emigration in die USA im darauffolgenden Jahr schlugen fehl. Felix, Bella und Harald Zernik wurden am 25.11.1941 in Kaunas ermordet.

Harald Zernik

 


Heute, fast 80 Jahre danach, leben dank der Zuwanderung aus osteuropäischen Ländern übrigens wieder rund 10.000 Jüdinnen und Juden in München.

Lieber Terry, lieber Julian: Der Abend mit euch in der Agnesstrasse hat mich nachhaltig geprägt – ich gehe seither mit völlig anderen Augen durch mein Wohnhaus. Vielen Dank für eure außergewöhnliche Form der Erinnerungsarbeit – und dass ihr uns Anwohnerinnen und Anwohner in der Agnesstrasse an der Erinnerung an die ermordeten jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger teilhaben lassen habt! 

Mehr Informationen über den Verein „Jews Engaged with Society“: 
j-e-w-s.org

Mehr Informationen über die Initiative „Stolpersteine für München e.V.“
http://www.stolpersteine-muenchen.de

Mehr Informationen über Terry Swartzberg: 
https://swartzberg.com/de/swartzberg
Instagram @terryswartzberg

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