Der Juni 2020 steht an der Bayerischen Staatsoper ganz im Zeichen des Festen Samstags und des Freien Sonntags: Während an den Samstagen Monodramen mit Musikerinnen und Musikern des Bayerischen Staatsorchesters und Sängerinnen und Sängern, die im Ensemble engagiert oder eng mit der Bayerischen Staatsoper eng verbunden sind, sowie Neukreationen des Bayerischen Staatsballetts präsentiert werden, gehört die Bühne an den Sonntagabenden ausgewählten Künstlern aus der Freien Szene. Ein Bericht über die Uraufführung des Ballettstücks petit pas und über den Liederabend mit dem Musicaldarsteller Philipp Büttner.
Die heiligen Hallen der Bayerischen Staatsoper zu betreten, hatte schon immer etwas Feierliches an sich. Schließlich zählt dieses Haus, auf dessen Bühne man zu Normalzeiten Superstars der Klassikszene wie Jonas Kaufmann oder Anna Netreboko erleben kann, zu den renommiertesten Opernhäusern der Welt. Zuletzt saß ich hier im vergangenen Dezember im Zuschauerraum und erlebte mit der Aufführung von Die tote Stadt eine der eindrucksvollsten, bewegendsten Operninszenierungen meines bisherigen Lebens.
Ein halbes Jahr später war das Münchner Nationaltheater Ende Juni 2020 der erste Ort, an dem ich nach dem Corona-Lockdown wieder gemeinsam mit 49 anderen Menschen ein Kulturerlebnis im analogen Raum genieße. Der Gang zu den Zuschauerplätzen glich einer Choreographie: Nachdem sich alle Zuschauer am Eingang die Hände desinfiziert hatte, schritt das Publikum vom Foyer aus einzeln und von dem sehr aufmerksamen und freundlichen Einlasspersonal begleitet von einem Standpunkt zum nächsten, bis es sich plötzlich an einer ungewohnten Stelle innerhalb des Münchner Nationaltheaters wiederfand. Im hinteren Teil der Bühne des Hauses waren 50 Sitzplätze angeordnet worden, von denen aus man einen atemberaubenden Blick auf den prunkvollen Zuschauersaal hatte.
„Wow“, hörte ich es staunend durch den Saal raunen, als das Licht auf und hinter der Vorderbühne des Münchner Nationaltheaters anging. „Früher wärmte ich mich auf, um für die Aufführung fit zu sein. Now I just warm up to warm up“, waren die ersten Worte der Tänzerin Marta Navarrete Villalba. Mit fünf Ensemblemitglieder des Bayerischen Staatsballets erarbeitete der Hauschoreograph Andrey Kaydanovskiy petit pas – eine Ballett-Neukreation, die am dritten Festen Samstag in der Bayerischen Staatsoper ihre Uraufführung feierte. Als Alter Ego der Zuschauer versuchte Marta Navarrete Villalba zunächst, die beengte, 32 Quadratmeter große Bühne mit ihrem Stuhl zu erobern und dabei jede Körperkontakt zu ihrem Ensemblekollegen Matteo Dilaghi zu vermeiden, der um sie herum mit seinem strengen Anzug und Hygienemaske für Ordnung sorgt. Als ihre erzwungene Distanz in einen furiosen Tango mündete, schreckten die Zuschauer kurz auf – und blickten schließlich voller Faszination auf die beiden Tänzer, die sich in diesem geschützten Raum glücklicherweise wieder einander annähern dürfen.
Andrey Kaydanovskiy greift in petit pas zwei Ereignisse thematisch auf: Die aufgrund der Verschärfung der Corona-Krise beschlossene Schließung des Nationaltheaters am 11. März 2020 und den Geburtstag des französisch-russischen Balletttänzers Marius Petipa, der als Vater des klassischen Balletts gilt. Aus dem Off liest Robert Valentin Hoffmann aus den Tagebucheinträgen eines Mannes, dessen Entmachtung ab dem Jahre 1903 durch den neu ernannten Direktor der Kaiserlichen Theater in St. Petersburg begann. Wladimir Teljakowski erschwerte Petipas Arbeit und nahm den Ausbruch des japanisch-russischen Krieges zum Vorwand, um die Aufführung seines neuesten Stückes zu verhindern. Ein Kommentar auf die Kulturpolitik in Corona-Zeiten und eine Mahnung, die Maßnahmen zur Einschränkung der künstlerischen Freiheit in Krisenzeiten stets mit großer Wachsamkeit zu verfolgen.
Auf der Bühne des Nationaltheaters tanzten Matteo Dilaghi, Elisa Mestres, Marta Navarrete Villalba, Jeanette Kakareka und Jinhao Zhang unter anderem zu Melodien aus „Schwanensee“ und dem „Nussknacker“ – als letztere erklangen, formierte sich der Damenchor der Bayerischen Staatsoper singend, staubwedelnd und mit ausreichend Sicherheitsabstand zueinander in den leeren Zuschauerrängen.
Besonders in dieser Szene wehte an diesem Abend ein Hauch von Wehmut durch den Raum. Sowohl aufseiten des Publikums, als auch aufseiten der TänzerInnen und Sängerinnen war die große Freude über die analoge Wiederbegegnung spürbar. Der intime Rahmen der Aufführung sorgte für ein sehr intensives Kulturerlebnis, bei dem man sich den Künstlerinnen und Künstlern als Zuschauer so nahe fühlte, wie lange nicht mehr. Als ich die Bayerische Staatsoper nach rund 45 Minuten verließ, brauchte ich einige Minuten, um wieder in der Realität anzukommen.
Als ich einen Tag darauf anlässlich des Freien Sonntags in das Nationaltheater zurückkehrte, genoß ich die Ruhe, mit der ich mich wie bereits am Tag zuvor auf die Vorstellung einstellen konnte. Die 15 Minuten, bevor das Licht auf der Vorderbühne und im Zuschauerraum angingen, fühlten sich an wie eine Art Meditation. So sehr ich mich vor dem Corona-Lockdown über den sich oft ergebenden Smalltalk im Foyer der Staatsoper gefreut hatte, so sehr schätzte ich nun die Stille im Saal.
Der 21. Juni 2020 stand in der Bayerischen Staatsoper ganz im Zeichen eines musikalischen Genres, dessen Akteure auf den großen Showbühnen der Republik sensationelle Publikumserfolge feiern. Als der von dem Pianisten Marcos Padotzke begleitete Musicalsänger Philipp Büttner die ersten Takte eines Medleys über seinen Weg vom großen Aladdin-Fan zur Ausbildung an der Theaterakademie August Everding bis hin zu seinen ersten Karriereschritten in der Musicalbranche anstimmte, war ich überwältigt von der großen Herzlichkeit, Ehrlichkeit und Offenheit, mit der er seinem Publikum begegnete.
Von 2010 bis 2014 studierte Büttner in München im Studiengang Musical und war damals unter anderem als Frederick Barrett auf der Felsenbühne Staatz bei der österreichischen Erstaufführung des Musicals Titanic zu erleben. Nach seinem Studium folgten unter anderem Engagements am Theater Bielefeld als Clyde in der deutschsprachigen Erstaufführung von Frank Wildhorns Bonnie & Clyde, als Che in Evita am Staatstheater Oldenburg, als Bruno Lubanski in Das Wunder von Bern in Hamburg oder als Tony in West Side Story bei den Domfestspielen in Magdeburg. Darüber hinaus belegte der Stipendiat des Deutschen Bühnenvereins den 1. Platz beim Bundeswettbewerb Gesang in Berlin.
Bereits in seinem Medley zu Beginn des Abends stellte Büttner mit Songs wie „I Have Nothing“ von Whitney Houston, „Unter dem Meer“ aus dem Musical Arielle, die Meerjungfrau (mein erster Disney-Film als Kind) oder „Martin Guerre“ aus dem Musical Martin Guerre die ganze Bandbreite ganze Bandbreite seines vielfältigen sängerischen Könnens unter Beweis. Seit 2016 spielt er die Titelrolle in Disney’s Aladdin – erst am Stage Theater Neue Flora in Hamburg, seit 2019 am Apollo Theater in Stuttgart. Seine absolute Traumrolle, für die er lange gekämpft hat. Vor dem Lockdown entschloss sich Büttner dazu, Aladdin Lebewohl zu sagen – seine letzte Vorstellung wird er hoffentlich nachholen können, nachdem die Showbühnen ihr Betrieb wieder aufgenommen haben. Büttner erzählt den Zuschauern, wie ihn kurz vor der Endrunde im Rahmen der ersten Audition für diese fordernde Musical-Rolle eine starke Grippe ereilte und wie er sich nur dank der Unterstützung von Familie und Freunden auf den Weg nach Hamburg machen konnte. Das erhoffte Happy End blieb dort jedoch aus – ein anderer Kandidat bekam die Zusage.
Philipp Büttners Musicalabend an der Bayerischen Staatsoper handelte von der Freude am Singen, von Erfolgen, von Niederlagen und von der Kraft, aufzustehen und Krisen als Chance zu begreifen. Vor allem aber ging es an diesem Abend um seine seine große Liebe zur Musik, die Philipp Büttner trotz der vielen Anstrengungen, die das Leben als Musicalsänger mit sich bringt, durchs Leben trägt. Als er seine letzten beiden Songs „Good at Goodbyes“ von Sam Smith und „To Sing“ aus dem Musical Songs from an Unmade Bed anstimmt, kann ich meine Freudentränen nicht länger unterdrücken.
Der Freie Sonntag in der Bayerischen Oper bewies einmal mehr und in sehr eindrucksvoller Weise, wie viel Kraft und Trost Musik in dieser unsicheren Zeit spenden kann. Und wie wichtig es ist, die Nöte und Sorgen der freien Künstler ernst zu nehmen, damit sie diese Krise überstehen. Denn nicht erst seit Friedrich Nietzsche ist klar, dass das Leben ohne Musik ein großer Irrtum wäre.
Mehr Infos über die Reihen Fester Samstag und Freier Sonntag an der Bayerischen Staatsoper findet ihr hier:
https://www.staatsoper.de/wochenende.html
Mit den Montagskonzerten und dem Freien Sonntag in der Bayerischen Staatsoper ist ein Spendenaufruf für die Künstler der Freien Szene Münchens verbunden, bei dem bereits rund 190.000€ gesammelt werden konnten:
https://www.staatsoper.de/spenden.html