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Allgemein Bühnengeflüster

Söhne und Töchter des Meeres

Robert Dölle in „Finsternis“

Mit „Finsternis“ gelingt dem Schauspieler Robert Dölle und der Regisseurin Nora Schlocker am Münchner Residenztheater ein dichter, sehr ergreifender digitaler Theaterabend über die Flüchtlingskrise im Mittelmeer und das Wesen des Menschseins. Eine Kritik über ein Theatererlebnis, das Spuren hinterlässt.

„Sind wir an einer Grenze angelangt, was das Begräbnis von Menschen angeht?“, fragt der Friedhofswächter Vincenzo, nachdem an einem einzigen Tag elf Männer und eine Frau auf der Insel Lampedusa tot aus dem Mittelmeer geborgen wurden. Er beschließt die Toten auf seinem Friedhof zu begraben, um ihnen ein Stück ihrer Würde zurückzugeben. Vincenzo pflanzt einen Oleanderbaum neben dem Grab der jungen Frau: Er wird sie an ihrer letzten Ruhestätte vor denjenigen bösen Einflüssen und Mächten beschützen, denen das Mädchen bei seiner gefährlichen Überfahrt über das Mittelmeer schutzlos ausgeliefert war.

„Wo werden wir übernachten?“, ist die erste Frage von Davide Enias Vater an seinen Sohn, als ihm dieser von seinem Wunsch berichtet, gemeinsam mit ihm nach Lampedusa zu reisen.

Rund zwanzig Jahre ist die im Mittelmeer zwischen Sizilien und Tunesien gelegene Insel aufgrund ihrer Nähe zu Nordafrika bereits als Fluchtziel bekannt. Seit dem Beginn des Arabischen Frühlings und des internationalen Militäreinsatzes in Libyen 2011 betreten viele Geflüchtete aus dem afrikanischen Raum in Lampedusa zum ersten Mal den vermeintlich rettenden europäischen Boden.

Als der in Sizilien aufgewachsene Schriftsteller Davide Enia von seinem deutschen Kollegen Albert Ostermaier zu einem Literaturfestival nach München eingeladen wurde, schlug ihm dieser vor, einen Text über die Lage der Flüchtlinge in Süditalien zu verfassen. Ausgerechnet auf die berüchtigte Insel Lampedusa reiste Enia daraufhin mit seinem Vater, einem wortkargen Kardiologen.

„Lampedusa“: Der Name der Insel ist spätestens seit dem Schiffsunglück mit Hunderten Toten im Oktober 2013 das Sinnbild für eine europäische Flüchtlingspolitik, die es bis heute zulässt, dass Menschen jeden Tag auf unwürdigste Art und Weise im Mittelmeer ertrinken. Die sozialen Netzwerke waren 2013 voll von den Bildern verzweifelter Menschen, für die sich das Meer zum Massengrab wurde.

Heute, acht Jahre später, hat sich unsere Sensationslust weitestgehend gelegt. Denn wir haben uns längst an die Bilder der um ihr Leben kämpfenden Geflüchteten auf hoher See gewöhnt.

Aus der Küche einer schicken Neubauwohnung hört man in Nora Schlockers Inszenierung von „Finsternis“ die Espressomaschine vor sich hin zischen, während Robert Dölle in der Rolle des Erzählers von der Landung von Geflüchteten auf Lampedusa erzählt. So aufgeräumt und geordnet dieses Setting auf einer Nebenbühne im Cuvilliés-Theater auf den ersten Blick wirkt, so beklemmend ist die Enge, die von diesem Raum ausgeht. Über zwei Kameras richtet sich Robert Dölle über die Plattform Zoom an seine Zuschauer*innen – und wird so zum Sprachrohr für Davide Enia und seinen Romanbericht „Schiffbruch vor Lampedusa“, den der Schriftsteller später zu einem Bühnenmonolog umarbeitete.

Davide Enias beeindruckender Essay lebt von den Begegnungen mit denjenigen Menschen, für die die traumatischen Auswirkungen der Flüchtlingskrise zu einem täglichen Begleiter geworden sind. Ein Rettungstaucher fragt sich, ob er lieber eine junge Frau mit ihrem Säugling oder drei Männer retten soll, die dabei sind, zu ertrinken. Drei Leben seien schließlich mehr als zwei. Ein alter Fischer erzählt, dass sie seit einigen Jahren auf Lampedusa mehr Seebarsche fangen. Denn für die Fleischfresser gäbe es nun mehr als genug Futter im Meer.

Was Nora Schlockers und Robert Dölles digitalen Theaterabend auf Zoom so einzigartig macht, ist die Tatsache, dass sie ganz auf die Kraft von Davide Enias Texten vertrauen. Dadurch konfrontieren sie die Zuschauer*innen auf eine unsentimentale und dadurch umso eindringlichere Art und Weise mit einem Thema, das für sie, die sie in der Mitte Europas leben, oft sehr weit entfernt scheint. In „Finsternis“ geht es nicht nur um eine humanitäre Katastrophe der Neuzeit, sondern auch um die elementaren Fragen des Menschseins – und um die Verantwortung, die wir alle füreinander unabhängig unserer Herkunft in dieser Welt tragen.

Die Verantwortung, die aus der Übernahme der Erzählerrolle erwächst, ist für Robert Dölle groß: Schließlich handelt es sich hier um die sehr persönlichen Erzählungen eines zeitgenössischen italienischen Autors. Mit ihm steht in Nora Schlockers Inszenierung „Finsternis“ ein Darsteller vor dem Publikum, der seine herausragende Schauspiel- und Sprechkunst ganz in den Dienst der eindringlichen Vermittlung von Davide Enias Texten stellt. Immer wieder wandert Robert Dölle als Enias Alter Ego im Raum umher und schneidet eine der Orangen, die Enias Mutter ihm aus Sizilien geschickt hat, in kleine Stücke. Ein verzweifelter Versuch, die Erlebnisse auf Lampedusa zu begreifen und zu verarbeiten.

Der Klang der Stimme von Enias geliebtem Onkel Beppe, der von einer schweren Krebserkrankung gezeichnet ist und im Sterben liegt, zieht sich wie ein roter Faden durch einen Abend, der die Zuschauer*innen zwingt, genau zuzuhören. Und der ihnen bewusst macht, welch ein Privileg es ist, sich von den engsten Menschen um einen herum in einer würdevollen Art und Weise verabschieden zu können.

Nora Schlocker und Robert Dölle schaffen mit „Finsternis“ ein Theatererlebnis, das in dieser intensiven Form nur im digitalen Raum möglich ist. Am Ende des Abends erzählt Dölle in seiner Rolle als Davide Enia die Geschichte der Göttin Europa, die der Zeus-Stier auf seinem Rücken entführte und mit ihr ihr nach Matala auf die Insel Kreta schwamm. „Wir sind die Söhne und Töchter einer Überfahrt über das Meer“, heißt es in Enias Text. Somit sind wir immer wieder dazu angehalten, unseren eigenen Schiffbruch zu erkennen und uns für diejenigen stark zu machen, für die die Menschenwürde in diesem Meer aus Verzweiflung, Tränen und Tod nicht zu gelten scheint.


Mehr Infos über „Finsternis“: 

https://www.residenztheater.de/stuecke/detail/finsternis

https://www.kiepenheuer-medien.de/Werke/data_werke/2558/showWerk

 

 

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