Keine Kulturveranstaltungen mehr auf unabsehbare Zeit und keine Reisen: Eine vollkommen ungewohnte Situation für mich nach drei Jahren, in denen ich so gut wie ständig für meinen Kulturblog unterwegs gewesen bin. Der Coronavirus und seine Auswirkungen zwingen mich in mancherlei Hinsicht zum Umdenken. Ich bin in den vergangenen Wochen leiser, demütiger, angsterfüllter, aber auch dankbarer geworden für all die Menschen, die ich meine Freunde und Vertraute nennen darf. Ab heute gehe ich wieder einer Gewohnheit aus meiner Kindheit nach und schreibe regelmäßig Tagebuch…
„Nur wo du zu Fuß warst, bist du auch wirklich gewesen“
Johann Wolfgang von Goethe
Liebes Tagebuch,
es ist sehr lange her, seit ich dir das letzte Mal geschrieben habe. Damals war ich vielleicht neun oder zehn Jahre alt und kämpfte mit den Folgen von schwerem Mobbing in meiner Klasse. In dieser Ausnahmesituation half es mir sehr, mir meinen Kummer von der Seele zu schreiben. Ich fühlte mich innerlich verstummt, leer, kraftlos. Die Tagebucheinträge an dich gaben mir trotz ihres traurigen Inhalts die nötige Kraft, den nächsten Tag in der Schule durchzustehen.
Heute, im Jahr 2020, ist die lähmende Angst aus Kindertagen, die ich damals verspürte, wieder da – ebenso wie der Wunsch, meine Gedanken dazu mit dir zu teilen. Im Gegensatz zu damals werden meine Texte nun auch andere Menschen lesen. Denn heute weiß ich, wie wichtig es ist, negative Gefühle nicht für sich zu behalten.
„Und es gehen die Menschen hin, zu bestaunen die Höhen der Berge, die ungeheuren Fluten des Meeres, die breit dahinfließenden Ströme, die Weite des Ozeans und die Bahnen der Gestirne und vergessen darüber sich selbst“, lautet ein Zitat von Francesco Petrarca. Es beschreibt sehr schön, wie ich in den vergangenen drei Jahren seit dem Beginn meines Kulturblogger-Daseins gelebt und gearbeitet habe. Mehrere Veranstaltungen pro Woche, zahlreiche Interviews, Begegnungen mit spannenden Künstlern, Reisen – und dazu jeweils die perfekten Fotos und Videos in den sozialen Netzwerken und in meinen Insta-Stories. Daneben noch ein Vollzeitjob und meine ehrenamtliche Tätigkeit im Freundeskreis des Residenztheaters. Mein Leben war von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen bis auf die letzte Sekunde durchgeplant. Daneben erfüllte ich auch meine Rolle als beste Freundin, Trösterin in allen Lebenslagen, Trauzeugin und Patentante.
Versteh mich nicht falsch, liebes Tagebuch: Mein Leben ist genau das Leben, das ich immer führen wollte. Es steckt voller Überraschungen, unerwarteter Wendungen und interessanter Begegnungen mit Kulturschaffenden und Künstlern. Zum Innehalten aber fehlte mir stets die Zeit. Nun, in den Zeiten des Coronavirus, fühlt es sich an, als habe jemand inmitten all meiner Betriebsamkeit den Stecker gezogen. Gerade kann ich nicht die perfekte Version meiner Selbst sein, die ich über Jahre hinweg war. Gerade kann ich nur eines: Jeden Tag lange spazieren gehen. Durch den Englischen Garten, den Luitpoldpark und den Olympiapark. Alleine oder mit guten Freunden, mit denen ich mich unter normalen Umständen nie so spontan verabreden kann. Ich hoffe, dass nicht nächste Woche bereits der Zeitpunkt gekommen ist, an dem wir unsere Wohnungen nicht mehr verlassen dürfen. Denn die frische Luft und die Sonnenstrahlen sind das, was mir gerade am meisten Auftrieb gibt.
Ich bin Gott sei Dank noch nicht krank und auch meine Familie und Freunde hat das Virus bisher verschont. Dafür bin ich sehr dankbar.
Deine Lena
2 Antworten auf „Flüstertöne #1: Der Spaziergang“
Liebe Lena, ich habe immer bewundert, wenn jemand Tagebuch geschrieben hat. Ich habe früher immer ein paar Anläufe genommen und das nie durchgehalten. Aber mit dem Bloggen fand ich dann auch den richtigen Anpack und im ursprünglichen Sinne war das Bloggen ja auch so etwas wie ein persönliches Tagebuch. Mit dem Unterschied, dass wir alle miteinander vernetzt sind. Jetzt ist mir eigentlich erst aufgegangen, warum ich im Unterschied zum Tagebuch schreiben das Bloggen so unglaublich gerne tue. Weil ich das im Bewusstsein tue, von anderen gelesen zu werden, mit anderen den digitalen Raum zu gestalten und mich auszutauschen. Deswegen gehören auch Begegnungen wie die mit dir dazu. Davon profitiere ich unglaublich.
Ich sende dir ganz herzliche Grüße und bleib gesund.
Anke
Liebe Anke,
ich danke dir ganz herzlich für deine klugen Worte und deine Gedanken zum Thema Tagebuch! Unter normalen Umständen wäre ich nie auf die Idee gekommen, das, was mich derzeit beschäftigt, in Form einer Tagebuch-Reihe zu Papier zu bringen. Aber die besonderen Zeiten, in denen wir uns derzeit befinden, und die eigene Ohnmacht angesichts der aktuellen Entwicklungen bringen mich dazu, über einige bisher als selbstverständlich wahrgenommene Dinge noch einmal neu nachzudenken..
Dass ich dich durch meine Kulturblogger-Aktivitäten kennen lernen durfte, ist ein großes Geschenk und eine wahnsinnige Freude! Ich wünsche dir viel Kraft für die kommende Zeit und freue mich auf die nächste Begegnung im Analogen, wenn hoffentlich irgendwann wieder positivere Zeiten anbrechen.
Alles Gute und liebe Grüße,
Lena