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Flüstertöne #10: Solidarität in Krisenzeiten

Hat unser derzeitiges Bewusstsein für Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe eine Chance, die Coronakrise zu überdauern?

Liebes Tagebuch,

überall ist sie in diesen Tagen zu sehen und zu spüren: Die unglaubliche Solidarität, die unser ganzes Land erfasst. Ich bin beeindruckt von den Zetteln mit Hilfsangeboten für ältere Hausbewohner, die man derzeit in vielen Hausfluren findet. Oder von den vielen digitalen Nachbarschaftsinitiativen wie nebenan.de, die quasi über Nacht aus dem Boden gestampft wurden. Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe ist das Gebot der Stunde: Doch wie werden die meisten Menschen reagieren, wenn ein Ende der Krise in Sicht ist?

Der Wissenschaftsjournalist Stefan Klein stellte in seinem 2010 erschienenen Buch „Der Sinn des Gebens. Warum Selbstlosigkeit in der Evolution siegt und wir mit Egoismus nicht weiterkommen“ fest, dass die Entwicklung der Menschheit eng mit der Fähigkeit zur Empathie und dem Bewusstsein, Dinge zu teilen, verknüpft ist. So entstand bei unseren Vorfahren durch die Zusammenarbeit bei der Kindererziehung und bei der Jagd ein Überschuss an Zeit und Nahrung, der den soziokulturellen Fortschritt erst möglich machte.

Stefan Kleins Menschenbild unterscheidet sich fundamental von dem des Homo Oeconomicus, für den das Streben nach Nutzenmaximierung in einem auf Gewinn und Profit ausgerichteten Leben höchste Priorität hat. Und gerade jetzt in der Krise zeigt sich, wie viele Menschen dazu bereit sind, sich für andere einzusetzen. Deshalb spricht auch der Soziologe Heinz Bude in einem Interview auf Deutschlandfunk Kultur von einer Zeitenwende in Bezug auf die Auswirkungen des Coronavirus auf unsere Gesellschaft.

„Die Gesellschaften fangen an, sich auf sich selber zu besinnen und Solidaritätsräume zu definieren“, so Bude. Ich habe allerdings meine Zweifel daran, ob der Neoliberalismus, der Ende der 1970er Jahre begann, nun vorbei ist. Denn die derzeit so gepriesene Solidargemeinschaft ist eine aus der Not heraus entstandene Schicksalsgemeinschaft.

In einer Zeit, in denen ein Feind von außen eine gleich große Bedrohung für Menschen aller Hautfarben und sozialen Hintergründe darstellt, stellt man die eigenen Bedürfnisse hinten an. Gabenzäune werden errichtet, Einkaufsdienste für die Nachbarn übernommen und man überlegt, ob man in diesem Jahr als Erntehelfer in einem landwirtschaftlichen Betrieb anheuern sollte. Diese vielen kleinen Gesten der Solidarität sind von großer Wichtigkeit in diesen unsicheren, schwierigen Monaten. Bedeutet Nächstenliebe jedoch, dass man damit eine längerfristige Verpflichtung eingehen muss, nimmt die Motivation, Gutes zu tun, meist schnell ab.

In dieser Krise hat man endlich damit begonnen, den Blick auf diejenigen Menschen zu lenken, die sich schon davor für Solidarität in unserer Gesellschaft eingesetzt haben: Die Mitarbeiter von Pflegeheimen und von Behinderteneinrichtungen, die ehrenamtlichen Ansprechpartner für Geflüchtete und die vielen Kulturschaffenden, die oft mit sehr wenig Geld und sehr viel Engagement einen Raum für die Begegnung verschiedener Bevölkerungsgruppen schaffen. Es wird sich zeigen, ob ihnen auch nach Corona dieselbe Aufmerksamkeit zukommt, wie im Moment – und ob ihre Arbeit in einer angemessenen Art und Weise finanziell und ideell gewürdigt wird. Ich habe meine Zweifel daran, ob solidarisches Handeln auch nach Corona als zentrale Leitlinie innerhalb unserer Gesellschaft verankert werden kann – aber ich bin nicht ohne Hoffnung.

Deine Lena

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