Eine kleine Hymne auf den Regisseur Jürgen Gosch.
Liebes Tagebuch,
ich muss in diesen Tagen oft an meinen Lieblingsregisseur Jürgen Gosch denken, der 2009 verstarb.
So umjubelt seine Inszenierungen in den letzten Jahren vor seinem Tod waren, so viele Durststrecken musste der 1943 in Cottbus geborene Gosch zu vielen anderen Zeiten in seinem Leben überwinden. Seine „Leonce und Lena“-Inszenierung 1978 an der Ostberliner Volksbühne, in der er mit dem althergebrachten Klassikverständnis brach, war für das sozialistische Berlin zu nihilistisch angehaucht. Und seine Antrittsinszenierung als künstlerischer Leiter der Schaubühne, „Macbeth“, wurde 1988 gar zu einem der größten Theaterskandale der BRD – mit vernichtenden Kritiken. Gosch verließ die Schaubühne auf der Stelle und zog sich in diesem Zustand „merkwürdiger Lähmung“ fast ein ganzes Jahrzehnt von der Bühne zurück.
Ich erinnere mich noch sehr gut an seine „Macbeth„-Inszenierung am Düsseldorfer Schauspielhaus, die ich 2006 im Rahmen eines Gastspiels am Münchner Residenztheater sah. Nackte Männerkörper, eingehüllt in Kleider aus Blut und Kot. Gosch ging es dabei nicht um platte Provokation, sondern darum, die tiefsten Abgründe menschlicher Existenz zu ergründen. Es waren keine Monster, die hier scheinbar ungehemmt mordeten, sondern zutiefst verstörte, de-moralisierte Menschen. „Schön ist wüst, und wüst ist schön. Wirbelt durch Nebel und Wolkenhöhn!“, zischten die drei Hexen in der 1. Szene des 1. Akts über die Bühne. Auf beunruhigende Art und Weise machte diese „Macbeth“-Inszenierung klar, wie sehr das Böse in jedem und jeder Einzelnen von uns verankert ist und dass es nur einen kleinen Funken braucht, um ein grausames Feuer aus Hass, Habgier und Rachsucht zu entfachen.
Sich der Norm des Theater-Establishments anzupassen, wäre für den Menschenforscher und Wahrheitssuchenden Jürgen Gosch nicht in Frage gekommen. Sein Theater brauchte keine Labels und keine kunstvoll verpackten politischen Statements auf der Bühne. Weder wollte Gosch mit seinen Inszenierungen dem Zeitgeist entsprechen, noch bewusst Skandale entfachen oder es dem Zuschauer in der Auseinandersetzung mit seiner Theaterästhetik zu leicht machen. Er suchte gemeinsam mit seinen Schauspielern nach einer Spielweise, in der sowohl das Wilde, Ungezähmte und Barbarische, das in den jeweiligen Figuren steckte, als auch ihre innere Zerrissenheit auf der Bühne sichtbar wurden.
Wer erfolgreich werden will, muss zur Marke werden: Das galt im Kulturbetrieb zu Goschs Zeiten wie heute, wo ohne ordentliches Personal Branding nichts mehr funktioniert. Am besten definiert man noch im Studium seinen eigenen Markenkern, damit die Kulturinstitutionen genau wissen, wen oder was sie sich in an ihr Haus einkaufen. Damals wie heute taten sich diejenigen Künstler am einfachsten, die sich am jeweiligen Zeitgeist orientierten – nicht ohne dabei ihre vielbeschworene Individualität zu betonen.
Es bedarf viel Mut und Durchhaltevermögen, um sich gegen den richtungsweisenden Mainstream im Kunst- und Kulturbetrieb zu positionieren. „Tatsächlich gab es in den ersten sieben oder acht Jahren in den Kritiken eine Reihe von etwas ratlosen Einordnungsversuchen – so etwas wie die Suche nach dem richtigen Etikett. Das fing an sich aufzulösen nach der „Arabischen Nacht“, eigentlich mit „Push up 1–3“ in meiner Hamburger Inszenierung. Vielleicht waren aufseiten des Feuilletons irgendwann alle Schubladen durch“, sagte Jürgen Gosch einst in einem Interview.
2009 sah ich einige Monate vor seinem Tod Goschs letzte Inszenierung „Die Möwe“ im Rahmen der Salzburger Festspiele. Zum letzten Mal kam Goschs Fähigkeit, seine Akteure auf den Proben offen, wach und neugierig zu beobachten, an diesem Abend zum Tragen. Ähnlich wie „Macbeth“ war auch „Die Möwe“ ein schauspielerisches Erweckungserlebnis für mich – ein kompromissloser und gleichzeitig liebevoller Blick des Regisseurs, den er gemeinsam mit seinen Bühnenakteuren auf die gescheiterten Existenzen in Tschechows Stück warf.
Es lebe das Unangepasstsein im Kulturbetrieb – und Menschen wie Jürgen Gosch, von denen es heutzutage viel zu wenige gibt. Vielleicht ist eine derart kompromisslose Haltung inmitten der Corona-Pandemie, in der es um das wirtschaftliche Überleben vieler Künstler geht, auch zu viel verlangt. Aber es wird ein Danach geben.
Deine Lena