
Mein kulturelles Highlight eines jeden Tages sind derzeit die Hauskonzerte des Pianisten Igor Levit. Mal spielt er in seinem eigenen Wohnzimmer, mal in einem Raum in München. Ein musikalischer Hochgenuss der besonderen Art, der dank Twitter und Periscope Menschen auf der ganzen Welt zuteil wird.
Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und,
wenn es möglich zu machen wäre, einige vernünftige Worte sprechen.
Johann Wolfang von Goethe
Liebes Tagebuch,
schöner als Johann Wolfgang von Goethe hätte man einen perfekten Tag voller Kunst, Musik und Literatur nicht in Worte fassen können. Goethe konnte aber nicht ahnen, dass wir es beinahe 200 Jahre nach seinem Tod mit einem Virus zu tun haben würden, der das gesamte Kulturleben in Europa mit einem Schlag zum Erliegen bringt. Zwar läuft der Probenbetrieb an einigen Theater- und Opernhäusern noch weiter – aber auch damit dürfte in den kommenden Tagen endgültig Schluss sein.
Wenn einem als Künstler auf unabsehbare Zeit die Bühne im wahren Leben genommen wird, dann bleibt nur die Eroberung des digitalen Raums. In diesen Zeiten kann sich besonders glücklich schätzen, wer wie Igor Levit nicht nur ein begnadeter Musiker, sondern auch ein Social Media-Profi ist. Fast 59.000 Menschen folgen dem Pianisten auf Twitter, rund 8.800 auf Instagram. „Citizen, European, Pianist“: So bezeichnet sich Levit, der normalerweise die großen Konzertsäle rund um den Globus füllt, selbst auf seiner Website. Er ist die Galionsfigur einer ganzen Generation junger, politisch engagierter Künstlerinnen und Künstler, der seinen Twitterkanal nicht nur dazu nutzt, um Werbung für seine Projekte zu machen, sondern auch, um sich in seinen Postings gegen Antisemitismus und die Ausgrenzung Geflüchteter auszusprechen. Abseits seines gesellschaftlichen Engagements in den sozialen Netzwerken ist Levit Mitglied von Bündnis 90/Die Grünen und er unterstützte 2019 die Fridays for Future-Bewegung mit seinem Klavierspiel auf der Straße.
So wichtig ich Levits Engagement für die Demokratie stets fand: Seine Selbstinszenierung und der Starkult, der aufgrund des Medienhypes um ihn herum in den vergangenen Jahren entstand, war mir sehr suspekt. Daher folgte ich seinen Social Media-Kanälen bis vor wenigen Tagen auch nicht. Doch dann, liebes Tagebuch, war da plötzlich diese Nachricht auf Twitter: „Die Konzertsäle sind leer, gemeinsames Hören und Erleben von Musik ist nicht möglich. Das ist traurig, jedoch notwendig. Und gut so. Trotzdem möchte ich Musik weiter mit Euch teilen. Hören, erleben. So, wie es halt geht. Also probiere ich mal etwas aus: mein Hauskonzert. Das Publikum, das seid Ihr alle. Ich werde ab heute Abend, 19:00, wann immer ich kann, für Euch von meinem Zuhause aus, spielen. Per Livestream, hier auf Twitter. Was auf dem Programm steht? Das weiss ich noch nicht. Mal gucken. Es ist ein Experiment. Social Media Hauskonzert. Bis wir uns alle wieder gemeinsam, real, nah beinander, versammeln und Kunst erleben können. Also, heute 19:00. Ich freue mich auf Euch. Igor“.
https://twitter.com/igorpianist/status/1238162788733923331?s=20
Am Abend des 12. März 2020 erklang Beethovens Waldstein-Sonate in Levits Wohnzimmer. Ein Weltklasse-Musiker barfuß am eigenen Piano – das erlebt man nicht alle Tage. Unglaubliche 285.000 Menschen haben das 25-minütige Video mittlerweile gesehen: Igor Levit beweist damit eindrucksvoll, dass man mit klassischer Musik eben doch ein sehr großes Publikum in der digitalen Welt erreichen kann. Mein bisheriges persönliches Twitterkonzert-Highlight fand übrigens am 14. März statt. Levit spielte Johann Sebastians Bachs Chaconne in d-Moll für Solovioline in einer Klavier-Bearbeitung von Johannes Brahms, die nur für die linke Hand komponiert wurde. „Ein Stück voller Trauer, ein Stück voller Einsamkeit, ein Stück, das mittendrin auch so etwas spendet wie Trost“, erklärte der Pianisr, bevor er seinen Zuhörern rund 20 Minuten Musikgenuss schenkte.
— Igor Levit (@igorpianist) March 14, 2020
So viele freundliche, herzliche Kommentare wie die unter den Live-Videos von Igor Levits Twitterkonzerten habe ich schon lange nicht mehr in den sozialen Netzwerken gelesen. „Thank you“, „Musik verbindet“, „Von Herzen Dank“, „Ich habe mich schon den ganzen Tag drauf gefreut“, „Wer braucht schon die Bundesliga“ oder „Ein Licht in dunkler Zeit“ ist da zu lesen – die unzähligen Herzchen und Daumen-Hochs nicht mitgezählt. „Die Musik ist eine Gabe und Geschenk Gottes, die den Teufel vertreibt und die Leute fröhlich macht“, hat Martin Luther einmal gesagt. Igor Levit: Deine Konzerte sind das Wunderbarste, was man sich in Tagen wie diesen wünschen kann. Deine Musik spendet Trost und gibt Kraft in einer Zeit, in der viele Menschen um die Gesundheit ihrer Familien fürchten und um ihre Existenz bangen. Ich danke dir von Herzen, dass du nicht nur auf der musikalischen Ebene gerade immer den richtigen Ton triffst. Und ich hoffe, dass sich noch viele weitere Künstler ein Beispiel an dir nehmen werden. Denn in dieser fundamentalen Krise besteht die Chance für Künstler, sich ihrem Publikum noch auf einer ganz anderen Ebene im digitalen Raum zu nähern.
Soweit für heute von mir, liebes Tagebuch.
Deine Lena
Wenn ihr kein Twitterkonzert von Igor Levit verpassen wollt, dann folgt ihm auf Twitter: