
Im Rahmen von „Habitat@home“ verwandelte sich mein Wohnzimmer am Abend des 15.02.2021 in einen Ort, an dem über 80 Menschen eine gemeinsame Tanzerfahrung miteinander teilten. Ein Rückblick auf den digitalen Habitat-Workshop der Choreografin Doris Uhlich an den Münchner Kammerspielen.
„Wir tanzen zum Lachen,
wir tanzen für die Tränen,
wir tanzen für Wahnsinn,
wir tanzen für Ängste,
wir tanzen für Hoffnungen,
wir tanzen für Schreie,
wir sind die Tänzer,
wir schaffen die Träume.“
Wenn man die Zeilen des weltbekannten Physikers Albert Einstein liest, scheint es fast so, als habe er den Abend des 15.02.2021 mit uns gemeinsam auf Zoom verbracht. Der Habitat@home-Workshop der renommierten österreichischen Choreografin Doris Uhlich startete um 19 Uhr mit einer sehr sympathischen Begrüßung durch die Gastgeberin. Bereits in den ersten Minuten gelang es Uhlich, trotz der fehlenden physischen Nähe ein Gemeinschaftsgefühl zwischen den rund 80 Tanzbegeisterten herzustellen. Ich war nicht nur beeindruckt von dem allgemein sehr großen Interesse an diesem Workshop, sondern auch davon, welch unterschiedliche Altersgruppen sich hier auf Zoom versammelt hatten – unter ihnen erstaunlich viele tanzbegeisterte Männer.
Zu Beginn ihres Workshops lud uns Doris Uhlich zu einer mehrminütigen Improvisation zu dem Song „Doin‘ it Right“ von Daft Punk ft. Panda Bear ein, den DJ Boris Kopeinig im Wohnzimmer ihres derzeitigen gemeinsamen Aufenthaltsortes in Oberösterreich für uns aufgelegt hatte. Es dauerte einen Moment, bis ich meinen ganz persönlichen Tanzrhythmus gefunden hatte – schließlich ist es über ein Jahr her, seit ich mich bei der Berlinale zum letzten Mal ausgelassen über eine Tanzfläche bewegte.
„Doing it right
Everybody will be dancing and we’ll
Feeling it right
Everybody will be dancing and be
Doing it right“
heißt es in Daft Punks Song, dessen Liedzeilen wie das Motto für den Workshop von Doris Uhlich erschienen. Es ging auf dieser Tanzfläche weder darum, möglichst gut zu performen, noch in Rekordschnelle eine Choreographie einzustudieren oder die eigenen tänzerischen Fähigkeiten im Laufe der 90 Workshop-Minuten zu perfektionieren. „Habitat@home“ ist viel mehr der geglückte Versuch, das Gefühl der Vereinzelung Stück für Stück in einem Zustand kollektiver tänzerischer Selbsterfahrung aufzulösen.
Kurz nachdem die erste Spielzeit unter der neuen Intendantin Barbara Mundel an den Münchner Kammerspielen begonnen hatte, erlebte ich mit „Habitat / München (pandemic version)“ im Oktober 2020 meine erste Inszenierung unter dem neuen Leitungsteam an den Münchner Kammerspielen. Doris Uhlich sah keinen der Beteiligten als Werkzeug ihrer choreographischen Schöpfungskraft an, sondern gestand jedem Performer und jeder Performerin seinen und ihren Raum zur individuellen Entfaltung zu. So konnte sich die Energie im Raum im Laufe der einstündigen Performance von den Tänzerinnen und Tänzern ungefiltert auf das Publikum, das in einem Viereck um sie herum in der Therese-Giehse-Halle saß, übertragen.
Bis auf das Ensemblemitglied Erwin Aljukić hatte Doris Uhlich ausschließlich Münchner Bürgerinnen und Bürger für ihre „Habitat“-Inszenierung ausgesucht, die sich mit einem großen Mut zur Expressivität durch den Raum bewegten.
Die Nacktheit der Akteur*innen hatte bei mir eine vollkommen unerwartete Wirkung: Während die Versuchung im normalen Leben oft groß ist, sich aufgrund des äußeren Erscheinungsbildes ein Bild von einem Menschen zu machen, begegnete ich den Performer*innen auf der Bühne vollkommen unvoreingenommen und ohne Vorurteile.
Einige Monate nach diesem Tanztheater-Erlebnis war der „Habitat@home“-Abend auf Zoom am 15.02.2021 für mich eine Möglichkeit, ein tieferes Verständnis für die künstlerische Vision einer Choreografin zu erlangen, die nicht den fitten, durchtrainierten Körper an sich, sondern die bewusste Wahrnehmung des eigenen Körpers in den Fokus rückt – ganz egal, ob man dabei bekleidet ist oder nicht.
Bevor uns Doris Uhlich nach mehreren Tanzsessions zu elektronischen Beats, bei denen unsere Kameras je nach Gegebenheit ausgeschaltet wurden oder eingeschaltet blieben, wieder in die Realität entließ, bat sie uns, ein Close Up-Video unserer vibrierenden Körper für die Videokünstlerin Su Steinmassl aufzunehmen. Steinmassl erschafft daraus ein visuelles Archiv, das in den kommenden Wochen auf der Website der Münchner Kammerspiele eingesehen werden kann.
Dieser Abend mit Doris Uhlich war so ungewöhnlich, dass er mir im Gedächtnis bleiben wird. Über die Bildschirme hinweg gelang es der Choreografin, ein Gefühl der Verbundenheit zwischen den Teilnehmenden herzustellen, das einen über das derzeitige Fehlen von Tanzmöglichkeiten im analogen Raum hinwegtröstet und vollkommen neue Perspektiven für tänzerische Begegnungen im digitalen Raum eröffnet.
Mehr Infos:
https://ww1.muenchner-kammerspiele.de/inszenierung/habitat-home