Kategorien
Allgemein Bühnengeflüster

„Ich will eine Maschine sein“

Laura Roberta Kuhr, Carolina Braun, Darios Vaysi, © Christian Borchers

Eine beeindruckende Theaterinszenierung einer jungen Regisseurin in bewegten Zeiten: Am 15.01.2021 feierte Ebru Tartıcı Borchers Premiere mit ihrer Interpretation von Heiner Müllers „Die Hamletmaschine“ am Theater im KunstQuartier in Salzburg. Das FS1 Freie Fernsehen Salzburg präsentiert die Aufzeichnung ihrer Inszenierung nun auf Youtube.

Heiner Müllers 1977 entstandener Text Die Hamletmaschine ist ein Faszinosum, ein Mysterium, ein Rätsel, das auf seiner jahrzehntelangen Auseinandersetzung mit Shakespeare basiert. Parallel zu seiner Hamlet-Übersetzung für eine Inszenierung von Benno Besson am Deutschen Theater schrieb Müller sein nur neun Seiten umfassendes Werk, in dem er Figuren und Schlüsselszenen aus Shakespeares Stück einführt, aber beinahe gänzlich auf eine Handlung und Dialoge verzichtet.

„Im Rücken die Ruinen von Europa“ 

„Der Name dieses Mannes ist auswechselbar“. 

„Die Versteinerung einer Hoffnung“

Die Regisseurin Ebru Tartıcı Borchers hat für ihre Inszenierung im Rahmen ihres Regiestudiums am Mozarteum Salzburg einen beinahe beinahe leere Bühne gewählt, die den drei Hamlet- und Ophelia-Figuren viel Spielraum bietet, um flammende Reden auf das Wesen der Revolution zu halten. Von einem Gerüst, das fest über der Bühne angebracht ist, blicken die Darstellerinnen Carolina Braun und Laura Roberta Kuhr als Amazonen der Neuzeit auf das, was sie der Gesellschaft durch ihren Mut und ihren Kampfwillen angeblich Bedeutsames mit auf den Weg gegeben haben.

„I am good, Hamlet. Give me a cause for grief“.

„Hier kommt das Gespenst, das mich gemacht hat“

Die beiden Frauen sind Hamlet – das zumindest behaupten sie sehr selbstbewusst und zitieren Donna Haraways Cyborg-Manifest aus dem Jahr 1985: Darin versuchte die Autorin, „einen ironischen, politischen Mythos zu entwickeln, der Feminismus, Sozialismus und Materialismus die Treue hält“. Der klassische Feminismus funktioniere – so Haraways Kritik – als Behauptung: Denn die Konstruktion einer kollektiven Einheit, die gemeinhin als „die Frauen“ bezeichnet werden, sei ein historischer Fehler. Für Haraway stellen Gender, Rasse und Klasse generell keine Grundlage für einen Glauben an eine „essentialistische“ Einheit dar. Damit gibt es für sie kein „Weiblich“-Sein, das Frauen auf natürliche Weise miteinander verbindet.

„Befreiung basiert auf der Konstruktion eines Bewusstseins“

Das von der Schauspielerin Carolina Braun angeführte Zitat von Donna Haraway ist einer der Schlüsselsätze in Ebru Tartıcı Borchers‚ Inszenierung, die sich vor allem um die Frage nach der eigenen Identitätsfindung in einer von Krisen erschütterten Welt dreht. Kategorien wie „männlich“ und „weiblich“ sind in diesem Zusammenhang bloße Zuschreibungen, die von den drei Akteur*innen Carolina Braun, Laura Roberta Kuhr und Darios Vaysi immer wieder hinterfragt und durchbrochen werden. Dabei erweist sich das „Weibliche“ auf der Bühne als mindestens so gewalttätig und brutal auf der Bühne, als sich das „männliche“ Verhalten als freundlich und mitfühlend herausstellt.

Heiner Müllers albtraumartiges Szenarium aus fünf formal unterschiedlichen Textfragmenten, in denen unter anderem Hamlet beziehungsweise ein Schauspieler, der Hamlet spielt, und Ophelia als gespenstische Widergänger realer historischer Personen erscheinen, hat Ebru Tartıcı Borchers auch zum Anlass für eine Auseinandersetzung mit dem kategorischen Imperativ von Immanuel Kant aus dem Jahr 1785 genommen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Kant zufolge ist es demnach aus moralischen Gründen verboten, zu lügen, zu foltern oder einen Menschen zu töten.

Carolina Braun, Darios Vaysi © Christian Borchers

„Das Denkmal liegt am Boden“. 

„Auf den Sturz des Denkmals wächst nach einer angemessenen Zeit der Aufstand“. 

„Aus dem Ruf nach Freiheit wird der Sturz der Regierung!“

Darios Vaysi, Carolina Braun, Laura Roberta Kuhr © Christian Borchers

Darf man als Revolutionär oder als Revolutionärin, die ein neue Gesellschaftsordnung erschaffen möchten, überhaupt moralische Empfindungen zulassen? Wie viel Härte gesteht sich eine Frau zu, die sich ihren Platz in der Geschichte sichern möchte? Und denkt der junge Mann, der in einer Videoeinspielung behauptet, er sei nun nicht mehr so „toxisch maskulin“, wirklich, dass er mit seiner genialen Ego-Show einen entscheidenden Beitrag zum Thema Frauenrechte liefert? Darios Vaysi ist die große Entdeckung dieser Inszenierung: Ein Schauspieler mit außergewöhnlichen Entertainer-Qualitäten, der die Hamletschen und Ophelianischen Züge gleichermaßen in sich vereint und der sich in seinen wechselnden Rollen zwischen Tapsigkeit, Traurigkeit und rücksichtsloser Raserei bewegt.

Darios Vaysi, Laura Roberta Kuhr (hinten) © Christian Borchers

„Mein Platz wäre zwischen den beiden Fronten“

„Ich bin die Datenbank, blutend in der Menge. Aufatmend hinter der Flügeltür“

„Mein Drama hat nicht stattgefunden“

Carolina Braun (hinten), Laura Roberta Kuhr © Christian Borchers

„Alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.

„Man kann lange über den Tod nachdenken, wenn man noch lebt“

Ebru Tartıcı Borchers erschafft mit ihrer Inszenierung in 45 Minuten einen rätselhaftes Universum aus Situationen und Stimmungen, das nicht immer leicht zu entschlüsseln ist. Begleitet vom Sound elektronischer Musik und live gespielter Gitarrenklänge, ist diese „Hamletmaschine“ eine Reflexion über eine Welt, die derzeit ähnlich im Umbruch ist wie 1990 im Jahr der Wiedervereinigung, als Heiner Müller dem Publikum seine legendäre „Hamlet/ Maschine“-Inszenierung mit Ulrich Mühe in der Hauptrolle am Deutschen Theater Berlin präsentierte. Dort hatte Müller Shakespeares Stück mit seinem Text „Hamletmaschine“ verknüpft.

30 Jahre später gelingt es der Regisseurin, in ihrer Version der „Hamletmaschine“ nicht nur, essentielle Fragen nach persönlicher und gesellschaftlicher Verantwortung zu stellen, sondern auch Bezüge zu ihrer Heimat – der Türkei – herzustellen. Eine Videoeinspielung des Eurovision Song wird zum Symbol für ein Land, in dem das Recht auf eine freie Entfaltung der eigenen Persönlichkeit seit vielen Jahren konsequent unterdrückt wird. Seit dem Sieg von Conchita Wurst 2014 bleibt die Türkei dem Eurovision Song Contest fern – und demonstriert damit einmal mehr ihren Machtanspruch, wenn es um die Einteilung der türkischen Gesellschaft in die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ geht.


Inszenierung: Ebru Tartıcı Borchers
Mit: Carolina Braun, Laura Roberta Kuhr, Darios Vaysi
Bühne & Kostüm: Hanna Schmaderer
Choreographische Unterstützung: Azahara Sanz & Mirjam Klebel
Ort: Theater im KunstQuartier

https://www.anlatebru.com/

http://schauspiel.moz.ac.at/seiten/studierende/regiestudierende/ebru-tartici-borchers.php

Kommentar verfassenAntwort abbrechen