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Interview mit Nikolai Gemel und Lukas Holzhausen

Lukas Holzhausen und Nikolai Gemel © Kerstin Schomburg, Katrin Ribbe

Mein absolutes Highlight beim diesjährigen Berliner Theatertreffen war die Inszenierung Ein Mann seiner Klasse vom Schauspiel Hannover, in der den Darstellerinnen und Darsteller unter der Regie von Lukas Holzhausen Momente von so großer Wahrhaftigkeit gelingen, wie man sie selten auf einer Bühne erlebt. Ein Interview mit dem Hauptdarsteller von „Ein Mann seiner Klasse, Nikolai Gemel, und Lukas Holzhausen über ihre gemeinsame Arbeit an dieser Produktion, das Klischeebild des Mannes und der Frau aus der Arbeiterklasse auf der Bühne und den Stellenwert des Theaters in unserer Gesellschaft.

„Unsere Eltern schliefen direkt neben unserem Zimmer. Darum drang es dumpf bis zu uns, wenn Mamas Kopf gegen die Wand donnerte. Niemals verloren wir darüber ein Wort. Wir spürten den Schmerz, wir betrachteten unsere zitternden Hände, wir warfen einander Blicke zu. Das Flehen und Flennen wurde uns mit der Zeit zur Normalität“. Es herrscht absolute Stille im Zuschauerraum auf der Seitenbühne der Berliner Festspiele, als Christian (Nikolai Gemel) diese Sätze spricht. Seine Worte sind nicht als Anklage, nicht als Vorwurf an ein Publikum gerichtet, das zum Großteil einer privilegierten Schicht angehört. Christian will die Menschen weder maßregeln, noch belehren oder sie zu sozialeren Wesen erziehen. Er möchte ganz einfach von seinem Leben erzählen – einem Leben am Rande einer Gesellschaft, in der der Selbstwert eines Menschen an dessen Klassenzugehörigkeit gemessen wird. 

 

In seinem 2020 erschienenen Debütroman „Ein Mann seiner Klasse“ blickt der Autor Christian Baron zurück auf seine Kindheit in einer Kaiserslautener Arbeiterfamilie.

Die Bühnenadaption von Christian Barons Familiengeschichte am Schauspiel Hannover hat gerade deshalb eine so überwältigende Wirkung auf das Publikum, weil sie ihre Kraft aus dem präzisem, reduzierten Spiel der Darstellerinnen und Darsteller schöpft. Die Schauspieler Nikolai Gemel und Stella Hilb, der Kinderdarsteller Noah Ilyas Karayar und der Schauspielgast Michael „Minna“ Sebastian distanzieren sich auf der Bühne weder bewusst von ihren Figuren, noch kommentieren sie deren Verhalten oder buhlen offensiv um die Gunst und das Mitleid der Zuschauerinnen und Zuschauer. Vielmehr nehmen sie das Publikum „Ein Mann seiner Klasse“ mit in eine Welt, in der Gewalt, Armut und fehlende Aufstiegschancen zum Alltag von Christian, seiner Mutter und seinem Bruder Benny gehören. In Christian Barons Familienepos geht es nicht nur um eine Kindheit voller Härte und Entbehrungen, sondern auch um zwei Jungs, die in der Wohnung der Eltern Super Mario spielen und von einer liebevollen Mutter Essen gekocht bekommen, wenn diese nicht gerade von ihrem alkoholsüchtigen Mann verprügelt wird. 

Nikolai Gemel als Christian in „Ein Mann seiner Klasse“ © Katrin Ribbe

Im Rahmen meiner Reise zum Berliner Theatertreffen hatte ich Ende Mai 2022 die Gelegenheit, mich mit Nikolai Gemel und Lukas Holzhausen über eine Inszenierung zu unterhalten, die sich wie kaum eine andere in den vergangenen Jahren in mein Gedächtnis eingebrannt hat. 

Nikolai, es freut mich sehr, dass wir uns heute nach zehn Jahren in diesem Rahmen wiedersehen! Gestern habe ich dich zum allerersten Mal überhaupt auf der Bühne erleben dürfen – ich stehe noch immer unter dem Eindruck dieses außergewöhnlichen Theaterabends.

Es ist großartig, dass du die Gelegenheit hattest, dir Ein Mann seiner Klasse hier beim Theatertreffen anzusehen! Ich denke in diesen Zeiten, wo wir mit sinkenden Zuschauerzahlen zu kämpfen haben, wieder sehr stark über den Stellenwert des Theaters in unserer Gesellschaft nach – gerade in einer Stadt wie Hannover, die nicht gerade zu Deutschlands Kulturmetropolen zählt.

Auch wenn die Intendantinnen und Intendanten nicht müde wurden, den großen Stellenwert ihrer Häuser während der Corona-Pandemie immer wieder zu betonen: Ich beobachte gerade ein vermehrtes Ausbleiben des Publikums in den Theatern. 

Ich leider auch. Ein Abend wie Ein Mann seiner Klasse ist zwar immer ausverkauft – aber wir spielen ihn auch in einer der kleineren Spielstätten des Schauspiels Hannover. Dass das Publikum immer seltener den Weg zu uns ins Theater findet, hat meiner Meinung nach einerseits natürlich damit zu tun, dass wir gerade in wirtschaftlich immer unruhigeren Zeiten leben und die Menschen mehr auf ihr Geld schauen. Andererseits muss man sich als Theater auch ganz klar die Frage stellen, welche Geschichten man eigentlich die vergangenen Jahrzehnten auf der Bühne erzählt hat – und welches Zuschauerklientel man damit erreichte. 

In „Ein Mann seiner Klasse“ wird man als Zuschauer*in mit den Lebensgeschichten von Menschen konfrontiert, mit denen man im täglichen Leben so gut wie nie Berührungspunkte hat.

Das Tolle an unserem Beruf ist ja, dass man sich zumindest teilweise in eine ganz neue Welt eintauchen darf. Ich teile zwar privat nicht dasselbe Schicksal wie die Hauptfigur Christian in Ein Mann seiner Klasse – aber auf der Bühne kann ich für eine bestimmte Zeit ein Teil einer Welt werden, zu der ich bis dahin keinen Zugang hatte. Hartz 4 war mir vor den Proben zu Ein Mann seiner Klasse zwar oberflächlich ein Begriff – aber ich komme glücklicherweise aus Verhältnissen, in denen ich während meiner Kindheit und im jungen Erwachsenenalter nicht mit Themen wie Armut konfrontiert war. 

Das große Problem in den Theaterhäusern war meiner Meinung in den vergangenen Jahrzehnten weniger, dass man Figuren aus einer bestimmten sozialen Schicht nicht auf der Bühne gesehen hätte: Ich fand es eher befremdlich, wie ihre Geschichten zur Projektionsfläche für unsere Vorstellung vom angeblichen Leben am Rand der Gesellschaft wurden. 

Ich habe mich oft mit unserem Regisseur Lukas Holzhausen, der wie ich Ensemblemitglied am Schauspiel Hannover ist, über genau dieses Thema unterhalten. Er hat die Menschen, um die es in Ein Mann seiner Klasse geht, natürlich im Laufe seiner 30-jährigen Schauspielkarriere auch immer wieder auf eine bestimmte Art und Weise auf der Bühne verkörpert. Und er wollte Ein Mann seiner Klasse auch deswegen inszenieren, um mit einem Klischeebild der Arbeiterklasse aufzuräumen, das sich fest in unsere Köpfe eingebrannt hat.  

Wie hast du dich im Detail auf deine herausfordernde Rolle in der Inszenierung „Ein Mann seiner Klasse“ vorbereitet? Die Gefahr, hier in Klischeefallen zu tappen, ist schließlich sehr groß.

Der ständige Austausch mit Lukas hat mir sehr bei der Vorbereitung auf die Proben geholfen – ich bewundere Lukas sehr für seine Entscheidung, Christian Barons Geschichte auf genau diejenige Art und Weise zu erzählen, wie wir das auf der Bühne des Schauspiels Hannover getan haben. Lukas war es sehr wichtig, dass diese Inszenierung ein eigenständiges Kunstwerk wird und sich damit klar von der Romanerzählung abhebt. Es gibt viele universelle Gefühle, an die ich in meinem Spiel in Ein Mann seiner Klasse andocken konnte: Schmerz, Sehnsucht, Verlust, Liebe… Und das Schöne war, dass man über das Erzählen dieser vermeintlich fremden Geschichte auch sehr viel über sich selbst herausfand.

Das kann ich mir gut vorstellen. Gewalterfahrungen muss leider jeder und jede von uns in seinem oder ihrem Leben immer wieder machen – egal, ob in physischer, oder in psychischer Form.

Absolut. Für mich ist die entscheidende Frage immer: Wie sprechen wir auf der Bühne über diese Erfahrungen? Ein Mann seiner Klasse ist ein sehr durchdachter Theaterabend, bei dem es vor allem um die eigene Haltung gegenüber dem Stoff geht. Während meiner Kollegin Stella viel mehr in die Emotion hineingeht, betrachtet meine Figur das Geschehen um sie herum mit einer gewissen Nüchternheit und Distanz. Darüber hinaus musste ich in meiner Rolle auch immer mein „Mehr-Wissen“, das ich als Erwachsener gegenüber dem Kind Christian habe, auf der Bühne zum Ausdruck bringen.

Die gerade stark in Frage gestellte Ideologie des Neoliberalismus besagt ja, dass man alles schaffen kann im Leben, wenn man nur genüg Anstrengung an den Tag legt.

Es war uns nicht nur ein wichtiges Anliegen, die Lüge des Neoliberalismus zu entlarven, sondern auch die strukturellen Probleme aufzuzeigen, die einen gesellschaftlichen Aufstieg hierzulande oft so gut wie unmöglich machen. Sätze wie „Da habe ich herabgeblickt auf eine Familie, aus der ich mir auszubrechen vorgenommen hatte“ von Christian Baron in Ein Mann seiner Klasse implizieren, mit wie viel Scham das Aufwachsen in einem Milieu verbunden ist, deren Mitglieder von der Politik und vom Rest der Gesellschaft oft vergessen werden.   

Mir ist in dieser Hinsicht eine Szene in eurer Inszenierung sehr im Gedächtnis geblieben, in der Christian sich an einen Versuch erinnert, in der Schule ein Gedicht aufzusagen.

Das ist das beste Beispiel für eine bestimmte Arroganz und Überheblichkeit, die ihm auf seinem Weg ins Erwachsenenleben immer wieder begegnet. Die Art, wie Christian spricht, entspricht nicht dem Duktus, den die Oberschicht für sich festgelegt hat und als gesetzt ansieht. Indem die Lehrerin ihren Schüler in Ein Mann seiner Klasse vor der gesamten Klasse bloßstellt, erstickt sie damit seine Hoffnung, es irgendwann weiter nach oben schaffen zu können, im Keim – und beraubt ihn eines Stückes seiner Würde.

Selten habe ich ein Ensemble so natürlich auf der Bühne agieren sehen wie euch in „Ein Mann seiner Klasse“. Ich hatte das Gefühl, dass es euch Schauspielern nie darum ging, eure Rollen so authentisch wie möglich zu spielen – sondern die inneren Zustände nachzuempfinden, die für das Leben der Figuren entscheidend sind.

Dass wir uns derart fallen lassen konnten während der Probenarbeit, lag zu hundert Prozent an Lukas: Ich vertraue ihm einfach voll und ganz in der Art und Weise, wie er mich auf der Bühne inszeniert. Als Darsteller habe ich am Schauspiel Hannover auch schon ganz andere Seiten von mir gezeigt: In Ein Mann seiner Klasse ging es gerade nicht darum, die spielerischen Extreme auf der Bühne auszuloten – gerade das war die große Herausforderung an der Rolle des Christian. Wir haben uns dazu entschieden, nicht auf einer psychologischen Ebene an die Figuren heranzugehen und sie durch unsere Interpretation quasi neu zu erschaffen, sondern uns an der Erzählung von Christian Baron entlang zu arbeiten und einen gemeinsamen Ton für den Abend zu finden. Ein Mann seiner Klasse sollte keine große Wehklage werden: Das Leben der Familie Baron fand vor dem Fernsehen statt. Christian Vater hat ihn gegen die Wand geschlagen, wenn er wütend war. Na und? Es war eben so. Man muss das Leben dieser Figuren weder bewerten, noch beschönigen. 

Ist es von Vorteil, für eine Inszenierung wie diese mit einem Regisseur zusammenarbeiten, der selbst regelmäßig auf der Bühne steht?

Ja, das ist wunderbar, weil Lukas jeder einzelne Vorgang auf der Bühne einfach sehr vertraut ist. Er ist darüber hinaus ein Mensch, der sehr gut beschreiben kann und hat ein derartiges Talent dafür, dass man als Spieler oft denkt: „Und wie komme ich nun genau an diesen Punkt heran?“

Ist „Ein Mann deiner Klasse“ in einer ganz anderen Hinsicht ein Kraftakt für dich als die Theaterabende, in denen du sonst am Schauspiel Hannover zu sehen bist?

Ja, denn dieser Abend ist unglaublich fragil. Es ist nicht nur eine Herausforderung, die riesige Textmasse zu bewältigen, sondern auch, all die Gedankenbögen, die man im Laufe dieser Inszenierung im Kopf spannt, immer mitzudenken. Mal ist man auf der Bühne in der Rolle von Christian das Kind, das gerne Super Mario spielt – und im nächsten Moment wieder ein erwachsener Mann, der ins Zwiegespräch mit sich selbst geht. Es ist unglaublich, wie sensibel man als Spieler an einem Theaterabend wie diesem auf jede kleine Regung im Zuschauerraum reagiert. Was ich darüber hinaus spannend zu beobachten finde, ist, dass dieser Abend mit jedem Mal, das wir ihn spielen, ein Stück weit mehr zu meiner eigenen Geschichte wird.

Wie äußert sich das genau?

Die Emotionen, die ich beim Spielen empfinde, brechen sich immer an einer anderen Stelle Bahn. Letzten Samstag musste ich zum Beispiel bei dem Satz „Er war ehrgeizig“ kurz innehalten: Denn die ganze Geschichte läuft ja darauf hinaus, dass Christian wusste, dass er wahrscheinlich trotz seines Ehrgeizes immer auf der Stufe seines Vaters bleiben würde. Oft beobachte ich auch einfach Minna dabei, wie er auf der Bühne arbeitet und bin beeindruckt davon, mit wie viel Liebe zum Detail er das tut. Für Minna als gelernten Zimmermann ist es weniger entscheidend, wie seine Kollegen das Stück finden, wenn sie ihn im Theater besuchen: Er möchte, dass die Tapeten an den Wänden auch wirklich gut aussehen.

Hatte er zuvor schon Berührungspunkte mit dem Theater?

Nein, absolut nicht. Hier kommt übrigens Lukas, unser Regisseur!

Chapeau, lieber Lukas: Ich bin ein großer Fan eures außergewöhnlichen Theaterabends.  

Lukas: Vielen Dank! Das ist wirklich eine besondere Arbeit, an der uns viel liegt. Ich freue mich daher sehr, dass wir sie nun auch beim Theatertreffen zeigen können.

Wie bist du auf den Roman von Christian Baron aufmerksam geworden?

Lukas: Ich hatte sein Buch Proleten, Pöbel, Parasiten: Warum die Linken die Arbeiter verachten gelesen. Dann bekam ich mit, dass er an einem zweiten Roman mit dem Titel Ein Mann seiner Klasse arbeitete. Nicht nur das Aufkommen von Reality Sendungen hat Anfang der 2000er Jahre dafür gesorgt, dass sich ein bestimmtes Bild der sogenannten „Arbeiterklasse“ in unser Gedächtnis eingebrannt hat. Auch im Theater konnte es in einigen Produktionen, an denen ich beteiligt war, gar nicht „White-trashig“ und kaputt genug auf der Bühne zugehen. Man hat die Menschen, um die es in diesen Inszenierungen ging, damit einer gewissen Lächerlichkeit preisgegeben. Unter dem Deckmantel der Kunstfreiheit hat sich aus der anfänglichen öffentlichen Abwertung dieser Menschen heraus eine Selbstverständlichkeit entwickelt, diese ausbeuten zu dürfen.

In früheren Jahrzehnten ging man sogar so weit, das Arbeiterleben in der Kunst und vor allem im Film zu ästhetisieren.

Oh ja! Mittlerweile sehen die Vertreterinnen und Vertreter der oberen Schichten in Filmen genauso drahtig und fit aus wie die Mitglieder unteren Schichten. Unser eigenes Selbstverständnis rührt zu einem hohen Maße daher, dass wir andere Menschen abwerten – und der Kulturbetrieb hat einen bedeutenden Anteil daran, dass eine gewisse Form der Erniedrigung lange Zeit nicht in Frage gestellt wurde. Unsere kulturellen Codes können bis heute meist nur Menschen entschlüsseln, die von Geburt an Teil einer bestimmten Gruppe sind.

Inwiefern unterscheidet sich Christian Barons Roman von den literarischen Texten von Schriftstellern wie Édouard Louis, der in Romanen wie „Wer hat meinen Vater umgebracht“ ebenfalls über sein Heranwachsen in einer Familie aus der Arbeiterschicht schreibt?

Der theoretische Anteil ist in Louis‘ Romanen viel größer. Schriftsteller wie er schützen ihrer Meinung nach ihre eigene Biografie, in dem sie dem Leser klar machen, dass sie über ihre eigene Geschichte erhaben sind. Wir wollten in Ein Mann seiner Klasse einen anderen Weg gehen und bewusst keinen Schutzraum um uns herum durch Diskurse auf der Bühne aufbauen. 

In welchen Szenen geben sich die Figuren deiner Meinung nach besonders schutzlos dem Publikum hin?

Lukas: Zum Beispiel, wenn die möglicherweise als naiv empfundenen Gedichte von Christians Mutter auf der Bühne vorgetragen werden. Wir haben lange überlegt, ob sie Teil der Inszenierung werden sollen oder ob man die Figur der Mutter damit bloßstellt. Die Entscheidung ist schließlich für ihre Gedichte gefallen – so naiv sie auf manche Menschen im Raum wirken mögen, so anrührend sind sie auf ihre ganz eigene Art und Weise.

Nikolai: Es geht für mich gar nicht so sehr um den Inhalt der Gedichte, sondern darum, dass relativ früh etwas in der Seele derjenigen Menschen, die sie schreiben, abgetötet wird – denn man macht ihnen unmissverständlich klar, dass ihre Art, sich auszudrücken, nicht der Norm entspricht. Wie soll meine Figur denn Hoffnung schöpfen, in seinem Leben jemals noch etwas zu erreichen, wenn bereits der erste Versuch, vor anderen Menschen öffentlich in Erscheinung zu treten, derart unterbrochen wird?

Lukas: Diese Gedichte haben eine derart starke Wirkung auf uns, weil wir spüren, wie jemand über Kunst versucht, Hoffnung zu schöpfen. Wir hingegen wollen heutzutage oft keine Hoffnung mehr durch die Kunst schöpfen – wir wollen dadurch Siege erringen, unsere Meinung durchsetzen, den Geschmack anderer Menschen formen. Derzeit sind wir alle sehr entsetzt darüber, dass so viele Leute nicht mehr ins Theater gehen wollen. Warum aber um alles in der Welt sollen die Menschen ins Theater kommen? Was ist unser Angebot an sie?

Worum sollte es dem Theater deiner Meinung nach heutzutage viel mehr gehen?

Lukas: Darum, unser Mitgefühl zu wecken.

Ein großes Problem besteht für mich schon allein darin, dass die Theaterschaffenden selbst immer noch eine sehr homogene Gruppe sind, was ihren sozialen Background betrifft. Ich selbst habe erst durch den Kontakt zu einem Theatermacher aus München während der Corona-Zeit gemerkt, wie einseitig ich meine Heimatstadt fast ein Jahrzehnt lang wahrgenommen habe. So schwierig es ist, Menschen aus verschiedenen sozialen Schichten im Theater zu erreichen: Wäre es euer Ideal, mit „Ein Mann seiner Klasse“ auch Zuschauer*innen ins Theater zu locken, die ihre eigene Familiengeschichte in Teilen auf der Bühne wieder erkennen? 

Lukas: Nein, diese Leute muss man über ganz andere Angebote an das Theater heranführen und erst einmal dafür sorgen, dass sie sich längerfristig mit einem Haus verbunden fühlen. Das bedeutet nicht, dass wir uns anbiedern müssen – aber niemand wird freiwillig zu uns kommen, wenn er sich in unseren Hallen klein und unbedeutend fühlt. Wir dürfen auch nie vergessen, dass viele unserer Theater durch Steuergelder finanziert werden und dadurch eigentlich die Verpflichtung hätten, sich viel mehr nach außen hin zu öffnen.

Nikolai: Ich gebe dir total Recht, aber ich bin aber schon ein Verfechter unserer subventionierten Kulturlandschaft, weil darin Dinge möglich sind, die mit dem permanenten ökonomischen Druck im Hinterkopf nicht entstehen könnten.

Lukas: Absolut! Für mich geht es eher darum, sich bewusst zu machen, dass wir viel verantwortungsvoller mit dem Geld umgehen sollten, das uns da großzügig von staatlicher und städtischer Hand zur Verfügung gestellt wird. Früher gab es die Versuche von Regisseuren wie Peter Zadek, das Unterhaltungstheater zurück auf die große Bühne zu holen – aber diese Experimente werden kaum noch irgendwo gewagt.

Nikolai: Ich hoffe übrigens schon, dass ein paar der Menschen, deren Geschichte wir in Ein Mann seiner Klasse erzählen, dann und wann bei uns im Theater sitzen. Mein großer Wunsch ist es, Leute, die ähnliches durchgemacht haben wie die Figuren auf der Bühne, durch unseren Abend zu berühren. Ich weiß, dass das ein fremder Wunsch ist – aber ich möchte die Hoffnung nicht aufgeben, dass wir mithilfe des Theaters die Welt ein Stück weit verändern kann.

Lukas: Die Hoffnung habe ich auch – ich möchte diesen Wunsch nur nicht als Ziel für unsere Inszenierung definieren.

Wann ist ein Theaterabend für euch am spannendsten?

Lukas: Wenn es einem Schauspieler auf der Bühne tatsächlich gelingt, etwas zu erzählen. Oft zitiert man die Haltung der eigenen Figur nur an, geht aber nicht wirklich in ihre Emotion hinein. Schön finde ich auch, wenn man spürt, dass eine Figur ein Bewusstsein über den gesamten Verlauf einer Geschichte hat.

Ich kann mir vorstellen, dass für einen Abend wie „Ein Mann seiner Klasse“ auch nicht so viele Schauspielerinnen und Schauspieler in Frage kommen.

Lukas: Ich wollte unbedingt mit Nikolai und Stella für diese Produktion zusammenarbeiten – obwohl ich wusste, dass Nikolai keinerlei Berührungspunkte mit dem sozialen Milieu hatte, aus dem Christian stammt. Und es gibt Abende am Schauspiel Hannover, in denen man Nikolai ganz anders auf der Bühne erlebt!

Nikolai: Du musst dir Monte Rosa ansehen oder Inheritance! In Monte Rosa stehe ich übrigens gemeinsam mit Lukas auf der Bühne. Ich bin so dankbar um all diese Rollen am Theater, weil man hier einfach eine ganz andere Bandbreite zeigen kann als zum Beispiel beim Fernsehen, wo man meistens nach einem bestimmten Schema F besetzt wird.

Wie hat Minna, der in „Ein Mann seiner Klasse“ den gesamten Abend über stoisch an einem Haus für die Familie von Christian arbeitet, eigentlich den Weg zu euch gefunden?

Lukas: Unsere Regieassistentin hat ihn tatsächlich im Supermarkt angesprochen.

Gab es keine Diskussionen am Haus, ob man Minna schutzlos dem Publikum ausliefert?

Lukas: Ja, die gab es. Wir stellen Minna in einer gewissen Art und Weise auf der Bühne aus und er weiß das auch. Es gibt zwei konkrete Situationen für mich – wenn er auf dem Boden kauert und wenn er vor seinem Sohn steht, während Christian über seinen langsamen Zerfall spricht: Da ist man an einer Grenze angekommen ist, die man als Regisseur auf keinen Fall überschreiten sollte. Für mich ging es überhaupt nicht darum, dem Publikum eine vollkommen zerstörte Vaterfigur auf der Bühne zu präsentieren, sondern rein über die Sprache Bilder im Kopf der Zuschauerinnen und Zuschauer zu erzeugen. Dabei spielt die Stimme des Vaters, die von Jan Thümer gesprochen wird und mit der die Schauspielerinnen und Schauspieler immer wieder in Dialog treten, eine sehr große Rolle. Es war eine spannende Herausforderung für das Ensemble, diese Stimme als Teil der Erinnerung ihrer Figuren in ihr Spiel zu integrieren.

 

Wenn das Ziel allgemein wäre, das Theater immer weiter für Menschen aller sozialen Schichten zu öffnen: Kann dies allein über theaterpädagogische Projekte gelingen?

Lukas: Nein, keineswegs. Im Theater müsste es Nahrung für die Seele geben – für jedermann und jede Frau. Die Zeiten, in denen wir unser Publikum wie ein Schulmeister erzogen haben, sind meiner Meinung nach ein für alle Mal vorbei.

Nikolai: Ich finde es sehr wichtig, dass Kunst in einer gewissen Form immer unberechenbar bleibt.

Lukas: Unbedingt! Und dass wir es aushalten, dass wir nicht alle immer einer Meinung sind. 


Die 3sat-Aufzeichnung der Inszenierung „Ein Mann seiner Klasse“ ist bis 03.09.2022 online verfügbar: https://www.3sat.de/kultur/theater-und-tanz/theatertreffen-ein-mann-seiner-klasse-100.html

Nikolai Gemel wurde 1990 in Wien geboren und absolvierte sein Schauspielstudium von 2014 bis 2018 an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg. 2014 besuchte er die Drama Summer School an der Guildhall School of Music and Drama London sowie 2015 die Contemporary Drama Summer School an der Bristol Old Vic Theatre School. Beim Bundeswettbewerb deutschsprachiger Schauspielschulen 2017 in Stuttgart gewann er mit seinem Jahrgang den Ensemblepreis. 2013 hatte Nikolai Gemel ein Gastengagement am Volkstheater Wien, davor spielte er in Jugendstücken am Dschungel Theater Wien. 2017 war er am Deutschen Schauspielhaus Hamburg in Yvonne. Prinzessin von Burgund unter der Regie Samuel Weiss zu sehen und am Jungen Schauspielhaus Hamburg in heimaten #2 all.to.nah unter der Regie von Elsa-Sophie Jach. Dazu kamen Engagements am Thalia Theater für GeldHunger in der Regie von Luk Perceval sowie für Diener zweier Herren in der Regie von Niels-Peter Rudolph. Daneben zahlreiche Rollen in Film- und Fernsehproduktionen. Zuletzt war Nikolai Gemel am Theater Konstanz in drei tragenden Rollen zu sehen.
Seit der Spielzeit 2019/20 gehört er zum Ensemble des Schauspiel Hannover, wo er unter anderem in Das Bildnis des Dorian Gray, Der eingebildete Kranke und Monte Rosa auf der Bühne zu erleben ist. 

https://staatstheater-hannover.de/de_DE/ensemble-schauspiel/nikolai-gemel.169045

https://www.dfmanagement.at/herren/nikolai_gemel/

Instagram @niko.gem

 

Geboren 1967 in Männedorf, Schweiz, absolvierte Lukas Holzhausen seine Schauspielausbildung an der Schauspielakademie Zürich. Von 1992 bis 1993 war er als Gast am Schauspielhaus Zürich beschäftigt. Zwischen 1993 und 2000 arbeitete er als Ensemblemitglied am Schauspielhaus Graz, danach folgten Stationen am Theater Bremen, am Schauspiel Frankfurt, am Schauspiel Köln, am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspielhaus Zürich und zwischen 2015 und 2019 am Volkstheater Wien. Immer wieder trat Lukas Holzhausen auch als Regisseur in Erscheinung – unter anderem bei dem Projekt Schnitzler – Unter uns 2005 am Schauspiel Köln sowie bei der Uraufführung von Lothar Kittsteins Die Sorglosen 2007 am Schauspiel Köln. Am Volkstheater Wien inszenierte er in der Spielzeit 2015/16 Halbe Wahrheiten von Alan Ayckbourn, in der Spielzeit 2016/17 Hangmen (Die Henker) von Martin McDonagh und in der Spielzeit 2017/18 Gotthold Ephraim Lessings Emilia Galotti. 2017 erhielt er eine Nominierung für den Dorothea-Neff-Preis in der Kategorie „Beste schauspielerische Leistung“. 2017 und 2019 wurde er als bester Schauspieler für den Nestroy-Preis nominiert.
Seit der Spielzeit 2019/20 gehört Lukas Holzhausen dem Ensemble des Schauspiel Hannover an. Zu sehen ist er dort unter anderem in Don KarlosAmphitryon, Monte Rosa und Die Tagesordnung. Neben Ein Mann seiner Klasse inszenierte er im vergangenen Jahr Aufzeichnungen aus dem Kellerloch. Bei nassem Schnee

https://www.hildestark.com/klienten/lukas-holzhausen/

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