
Im November 2017 interviewte ich den Regisseur Moritz Hauthaler zum ersten Mal: Nun eröffnet die Abschlussinszenierung seines Regiestudiums an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule am 12.06.2019 das Körber Studio Junge Regie in Hamburg. Ein Gespräch über Räume, Künstlerkollektive und den mündigen Zuschauer.
Es gibt Gespräche, die einen so nachhaltig prägen, dass man sie unbedingt wiederholen sollte. Im November 2017 traf ich den Regisseur Moritz Hauthaler zum ersten Mal im Obergeschoss der Pinakothek der Moderne. Damals fand gerade die Lange Nacht der Museen in München statt – dementsprechend voll war der Raum, in dem sich Moritz‘ Installation Das Bienenhaus im Zementgarten befand. Anlässlich des Jubiläums der berühmten Arbeit Honigpumpe am Arbeitsplatz von Joseph Beuys entwickelte Moritz eine Installation, die über mehrere Wochen hinweg in der Pinakothek der Moderne zu sehen war. Das Projekt war der Versuch der Rückeroberung eines Ortes aus Moritz‘ Kindheit, sein Großvater einst geschaffen hatte.
Eine Woche nach unserer ersten Begegnung saß ich wieder mit Moritz Hauthaler in der Pinakothek der Moderne. An einem Sonntagnachmittag unterhielten wir uns direkt neben dem Bienenhaus über dieses ungewöhnliche Projekt, sein Verständnis von Theater und das Verhältnis des Regisseurs zum Zuschauer.
Moritz‘ beobachtende, reflektierte und gleichzeitig sehr emotionale Art und Weise, die Dinge um ihn herum zu betrachten, beeindruckte mich sehr. Eineinhalb Jahre waren seit unserem ersten Treffen vergangen, als ich ihn im Mai 2019 zu einem erneuten Gespräch auf der Terrasse der Goldenen Bar im Haus der Kunst traf. In den vergangenen beiden Jahren feierten mit Macbeth, Das Schloss, München November 18 und Elephant gleich vier Inszenierungen von Moritz Hauthaler Premiere im Rahmen seines Studiums an der Otto-Falckenberg-Schule.
Theater: Das bedeutet für den jungen Regisseur, neue Räume mit seinen Ideen zu füllen – und das Verhältnis zwischen dem Publikum, dem Bühnengeschehen und den Schauspielern in jeder Inszenierung zu hinterfragen und neu auszuloten. Viele von Moritz‘ Arbeiten wie Macbeth, ein „Polydrama aus Schauspiel und Performance“, oder München November 18 fanden daher außerhalb der Kammer 3 in den Münchner Kammerspielen, wo ein Großteil der Inszenierungen der Regiestudenten der Otto-Falckenberg-Schule zur Aufführung gebracht wird, statt. Im Kunst Block Balve und in der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität in der Nussbaumstrasse fand der Regisseur die geeigneten Orte, an denen er sein Publikum dazu ermutigte, die passive Rolle des Betrachters aufzugeben und sich als mündiger Zuschauer mit den Themen der jeweiligen Inszenierung auseinanderzusetzen.
Die szenische Installation ELEPHANT gehört zu den außergewöhnlichsten Theaterinszenierungen, die ich in den letzten Jahren gesehen habe. Ausgangspunkt für Moritz Hauthalers Arbeit war die Auseinandersetzung mit dem 20 Jahre zurückliegenden Tod seines Vaters. Zahlreiche Gerichtsakten können belegen, was in der Nacht, in der Moritz‘ Vater verstarb, genau geschah – zumindest auf den ersten Blick. Moritz begann im Zuge seiner Recherchen für ELEPHANT, Nachforschungen anzustellen und entdeckte Ungereimtheiten in den Akten. Kann man dieser schriftlich festgehaltenen Wahrheit Glauben schenken, wenn man selbst nicht vor Ort im Gerichtssaal war? Und würde es heute mehrere Wahrheiten geben, wenn mehrere Protokollanten gleichzeitig die Ergebnisse der Verhandlung festgehalten hätten?
Schon der Bühnenraum von Xaver Unterholzner nimmt die fragmentarischen Grundzüge dieser Inszenierung vorweg: Wie ein Verhörraum wirkt das kahl möblierte Zimmer, in dem die Darsteller Rosa Falkenhagen und Janus Torp versuchen, die Geschehnisse von vor 20 Jahren zu rekonstruieren.
ELEPHANT ist kein Seelenstriptease eines jungen Regisseurs, sondern stellt viele Fragen, die den Zuschauer dazu auffordern, sich über seine eigene Methode der Wahrheitsfindung Gedanken zu machen. „Es wäre falsch, das Thema „fake news“ nur auf Politiker wie Donald Trump zu beziehen – sie beginnen in unserem Kopf“, sagt Moritz Hauthaler, der sich in seiner Abschlussarbeit an der Otto-Falckenberg-Schule auf eine sehr persönliche Spurensuche nach der eigenen Identität begibt. Es ist die große Stärke dieser szenischen Installation, dass Moritz Hauthaler dazu nicht selbst zum Performer werden muss, sondern durch seine brillanten Schauspieler einen emotionalen Zugang des Zuschauers zu seiner eigenen Familiengeschichte herstellen kann. Gemeinsam mit Rosa Falkenhagen und Janus Torp bewegt man sich durch diesen Theaterabend, der einen nicht mit der Gewissheit darüber, was in einer Nacht vor 20 Jahren genau mit Moritz Hauthalers Vater geschah, entlässt – sondern mit der Warnung, dass man nie aufhören sollte, angebliche Wahrheiten kritisch zu hinterfragen.
Am kommenden Mittwoch, 12.06.2019, eröffnet Moritz Hauthaler mit seiner Inszenierung ELEPHANT das 16. Festival Körber Studio für Junge Regie in Hamburg. Das Gemeinschaftsprojekt des Thalia Theater, der Körber-Stiftung und der Theaterakademie Hamburg unter der Schirmherrschaft des Deutschen Bühnenvereins ist eine der wichtigsten Plattformen für den Regienachwuchs im deutschsprachigen Raum.
Was geschah an dem Abend, an dem dein Vater vor 20 Jahren starb?
Als Kind wurden die Umstände, unter denen mein Vater starb, verständlicherweise von mir ferngehalten. Als Jugendlicher habe ich dann angefangen, falsche Bilder in meinem Kopf zu produzieren, die sich auf Erzählungen und Gerüchte stützten und zusammen mit meiner Imagination zu einer Wahrheit formten. Nun als Erwachsener habe ich mir vom Anwalt die Polizeiakten, Gerichtsakten und Obduktionsberichte zu diesem Fall geholt und muss gestehen, dass sich mir dadurch nur annähernd die volle Wahrheit erschließt.
Man könnte die Ereignisse in dieser Nacht vermutlich so zusammenfassen: Mein Vater hat der Freundin eines Jugendfreundes sehr viel Geld geliehen, ohne zu wissen, dass dieses in die Drogensucht der Frau investiert wurde. Als mein Vater das Geld am 15.11.2001 abholen wollte, wurde bei dieser Gelegenheit sehr viel getrunken. In diesem betrunkenen Zustand konnte er in der Nacht nicht mehr nach Hause fahren und übernachtete auf der Eckbank in der Küche. Am nächsten Morgen wurde er dann leblos aufgefunden. Die Gerichtsmedizin stellte eine hohe Konzentration an Heroin im Blut meines Vaters fest, die bei einem Menschen, der nicht an diese Droge gewöhnt ist, zum Tode führt. Ob es fahrlässige Tötung oder ein Unfall war, konnte nicht festgestellt werden.
Den weiteren Handlungsverlauf kennst du also nur aus den Gerichtsakten?
Ich wusste lange Zeit nichts von ihnen und hatte später Angst vor dem Moment, in dem ich sie in den Händen halte. Weniger, weil ich mich davor gescheut habe, ihren Inhalt zu erfahren – sondern, weil diese Akten eine physische Präsenz hatten, die ich unheimlich fand und ihnen etwas „Hitchcock-mäßiges“ anhaftete.
Ich stelle mir die Recherchen für ein neues Projekt nicht einfach vor, wenn es sich dabei wie in deinem Fall um die eigene Familiengeschichte handelt.
Ich wollte durch meine Abschlussarbeit ELEPHANT an der Otto-Falckenberg-Schule keinen Seelenstriptease hinlegen, sondern die Zuschauer*Innen zum Nachdenken darüber anregen, aus welchen Bestandteilen sich die eigene Wahrheit zusammensetzt. Als Regisseur oder Künstler gibt es für mich persönlich nur zwei Wege, wie ich dem Publikum begegne: Entweder ich lasse es durch meine Arbeit ihre eigene Existenz vergessen oder ich werfe sie auf diese zurück. Ich habe mich für letzteres entschieden, weil ich an den mündigen Zuschauer, der über das Gesehene und Gehörte nachdenkt, glaube.
Die Ansprüche, die du in jeder deiner Inszenierungen an dich selbst stellst, sind sehr hoch.
Absolut. Denn ich will es jedes Mal schaffen, eine Verbindung zwischen den Zuschauer und dem, was auf der Bühne stattfindet, herzustellen.
Ich habe dich als einen sehr aufmerksamen, empfindsamen Menschen kennengelernt, der das starke Band zwischen dem Publikum und den Akteuren auf der Bühne in seinen Inszenierungen nie abreißen lassen würde.
Das ist schön zu hören. Ich habe für mich die Entscheidung getroffen, im Kunst- und Kulturbetrieb arbeiten zu wollen. Aber ich glaube, dass es neben dem Theater an sich noch so viele andere spannende Räume gibt, in denen ich meine Vision von Theater verwirklichen kann. Die besteht vor allem darin, die notwendigen Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, dass diese Kunstform Theater auf unterschiedliche Art und Weise gedacht und inszeniert werden kann.
Hast du schon einmal darüber nachgedacht, ein Künstlerkollektiv zu gründen?
Tatsächlich bin ich aber gerade dabei, eine Produktionsgemeinschaft mit zu gründen!
Ich merke, dass es unter vielen jungen Kunst- und Kulturschaffenden gerade den Wunsch gibt, neue Formen des Zusammenarbeitens zu erproben. Die Tendenz, sich über alles, was schief läuft, zu beschweren, ist groß. Das System, innerhalb dessen man sich bewegt, wird man aber dadurch nicht grundlegend verändern können.
Eigentlich sind alle Institutionen doch letztendlich auch nur Menschen. Meiner Meinung nach spiegeln die meisten Gebäude die große Macht derjenigen Leute, die die Geschicke dieser Häuser lenken und leiten, wieder. Daher bin ich überzeugt davon, dass die Gründung von Künstlergemeinschaften und Kollektiven wichtig und notwendig ist.
Ich fürchte, dass diese Macht, von der du sprichst, bestimmte Handlungsweisen begünstigt. Wir würden vermutlich nicht anders reagieren, wenn wir uns in derselben Position wie die Leiter der meisten Kultureinrichtungen befinden würden.
Da hast du absolut Recht. Von außen zu kritisieren und kommentieren ist relativ einfach, wenn man nicht selbst irgendwann die Initiative ergreift.
So einfach, wie man es sich das Leben auf der anderen Seite vorstellt, ist es eben nicht immer. Gerade, wenn es um heikle Themen wie Verlängerungsgespräche geht: Schauspielern sollte bewusst sein, dass ihr Beruf auch den Umstand mit sich bringt, dass ihre Arbeit auf eine sehr subjektive Art und Weise beurteilt wird. Kritik ist jedoch leichter zu ertragen, wenn sie respektvoll an einen herangetragen wird.
Definitiv. Da aber nicht jeder sein ganzes Leben lang mit diesem Blick von außen leben kann und möchte, setzt an diesem Punkt die Idee der Gründung einer Produktionsgemeinschaft an. Es geht darum, für mehr Diversität im Theater zu sorgen und auch bildungsferne Schichten dafür zu begeistern. Ich persönlich fühle mich in einer Gemeinschaft, wo man in unterschiedlichen Konstellationen gemeinsam sowie solo an Projekten arbeitet, am wohlsten. Wichtig ist für mich, dass die einzelnen Verantwortungsbereiche klar definiert sind.
Was ich auch entscheidend finde: Die Arbeit eines Künstlerkollektivs muss sich irgendwann finanziell gesehen rechnen. Sonst bleibt von der schönen Idee am Ende nur viel Frust und Enttäuschung übrig.
Geld ist wichtig, sollte aber nie der Hauptgrund sein, warum man Kunst macht. Gerade an Filmhochschulen stehen die Studenten meiner Meinung nach unter einem großen Druck, möglichst marktkonform und ökonomisch zu arbeiten – und mit der eigenen Arbeit möglichst viele Preise zu gewinnen. Von außen her wird dir suggeriert, dass die Filmhochschule ein Ort ist, an dem man sich ausprobieren kann. Aber die Institution setzt einem in vielerlei Hinsicht Grenzen und hinterfragt so gut wie nie die Formen an sich.
Ich finde es großartig, wenn man als Regisseur eine eigene Handschrift für seinen Film entwickelt. Aber die sollte für den Großteil eines gebildeten Publikums auch verständlich sein, wenn man seinen Film im Kino auswerten möchte.
Absolut! Aber im Rahmen der Ausbildung muss es die Möglichkeit geben, sich auszuprobieren und eigene Visionen als Regisseur zu entwickeln. Das bedeutet für mich auch, dass man sich die Frage stellt, wie das Medium Film noch rezipiert werden könnte.
Das sehe ich genauso. Ich bin ein großer Fan des Kollektiv-Gedankens und finde, dass sich dieser nicht rein auf eine Kunstsparte beschränken sollte. Aber ich frage mich, welche Art von „Geschäftsmodell“ man für ein Kollektiv entwerfen muss, damit man nicht tausend Projekte nebenher machen muss, um über die Runden zu kommen.
An der Schauspielschule jedenfalls werden SchauspielerInnen nicht wirklich beigebracht, wie man eigene Projekte anstößt und diese erfolgreich umsetzt. Da geht es eher darum im Markt zu funktionieren.
Bisweilen hat man den Eindruck, dass Schauspieler durchaus bewusst zur Unmündigkeit erzogen werden.
Natürlich, denn sie sollen ja in vielen Inszenierungen eine Projektionsfläche für die genialen Ideen des Regisseurs sein.
Es wäre andererseits auch fatal, wenn alle Leute, die an einem Produktionsprozess beteiligt sind, bei jeder Entscheidung ein Mitspracherecht hätten.
Als Regisseur beschäftigt man sich meistens schon sehr lange mit einem Projekt, bevor die Schauspieler dazu stoßen. Meistens hat man dann schon eine eigene Vision für eine Inszenierung entwickelt. Schwierig finde ich es, wenn ein Regisseur zu Beginn eines Probenprozesses eine Behauptung aufstellt und diese als gesetzt ansieht.
Fehlt es den jungen Darstellern an den Schauspielschulen manchmal aber nicht auch an Lebenserfahrung, um gewisse Dinge ausdiskutieren zu können? Die meisten von ihnen beginnen ihr Studium ja in einem sehr jungen Alter.
Um heute als Schauspieler erfolgreich zu sein, musst du relativ früh auf dem Markt präsent sein. Ich finde es nicht einfach, künstlerisch an seine Grenzen zu gehen, wenn man persönlich noch nicht gefestigt ist. Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass man sich von vielen alten Grundsätzen an den Schauspielschulen wie demjenigen, dass man das Schauspielstudium nur bis zum Alter von 24 Jahren aufnehmen kann, frei machen muss. Jede künstlerische Institution sollte ihr Leitbild, ihre Mission noch einmal überdenken, neu für sich formulieren und transparent und verantwortungsvoll hinter dem, was sie versprechen, stehen. Alle sprechen von Diversität, von Gleichberechtigung – davon merkt man jedoch oft wenig, wenn man sich in der Realität des Theaterbetriebs bewegt.
Ich würde mir wünschen, dass Moral und Anstand auch da vorherrschen, wo einem Kulturschaffenden keine Bühne für die eigene Selbstdarstellung geboten wird. Einer der ehrlichsten, bewegendsten Momente, die ich je im Theater erlebt habe, war im vergangenen Juli im Residenztheater die Verleihung des Kurt-Meisel-Preises der Freunde des Residenztheaters, als der Schauspieler Alfred Kleinheinz die Bühne betrat. Uns war klar, dass dies sein letzter Auftritt auf dieser Bühne sein würde, da er zu diesem Zeitpunkt bereits schwer krank war. Die Gespräche, die ich an diesem Tag mit vielen Menschen geführt habe, wirken bei mir bis heute nach. Aber es kann doch nicht immer jemand sterben, damit wir beginnen, in einer anderen Art und Weise miteinander zu kommunizieren…
Ich fürchte doch. Der Mensch muss auf sich selbst zurückgeworfen werden, damit er aufwacht und bestimmte Dinge begreift. Die meisten gesellschaftlichen Umwälzungen fanden schließlich auch nicht ohne eine vorhergehende Katastrophe statt.
Das heißt, im Moment bräuchte es wieder eine solche Katastrophe, damit sich grundlegend etwas verändert in unserem Land?
Ich hoffe es nicht. Durch ein Theaterstück oder ein Kunstwerk werden wir Künstler diese Welt nicht grundlegend verändern. Aber für mich steckt in der Kunst eine soziale Komponente, die darin besteht, Menschen zusammenzubringen und einen Freiraum zu bieten, innerhalb dessen man sich nicht den Anforderungen des Marktes unterwerfen muss. Der wichtigste Aspekt ist für mich in diesem Zusammenhang die eigene Leidenschaft, die letztendlich die Gesetzmäßigkeiten des Marktes aushebeln wird.
Wie wichtig ist es dir, dich als Regisseur selbst in der Öffentlichkeit präsentieren zu können?
Ich finde nicht, dass es mich beim Premierenapplaus auf der Bühne bräuchte. Aber ich stehe hundertprozentig zu den Projekten, die ich mache und zu den Menschen, mit denen ich zusammenarbeite.
Gerade im Moment gibt es einige junge Theaterregisseure, die das Rampenlicht sehr zu genießen scheinen. Muss man ihnen deiner Meinung nach nacheifern, um Erfolg zu haben?
Natürlich möchten viele Zuschauer gerne ein Gesicht zu derjenigen Person haben, über dessen Abend sie sich gefreut oder geärgert haben. Ich finde es sehr schön und wichtig, mit dem Publikum ins Gespräch zu kommen. Aber ich glaube nicht, dass man den Zuschauern alles erklären muss.
Das sehe ich genauso: Denn ich bin mir sicher, dass das Publikum eine Inszenierung wie ELEPHANT vollkommen unterschiedlich wahrnimmt, da du keine einfachen Antworten auf viele Fragen lieferst.
Erklären könnte ich dem Publikum eh nichts, ich kann nur erzählen. Ich weiß, dass es einige Angriffsflächen in meiner Inszenierung gibt, die sicherlich in einem Gespräch zur Sprache kommen würden.
Wo siehst du das Hauptproblem in Bezug auf unser derzeitiges übersteigertes Bedürfnis nach Wahrheitsfindung?
Die Mündigkeit der Menschen wird nicht gefördert, sondern stattdessen in Angst konserviert. Um sich komplexen Themen nicht stellen zu müssen, vereinfacht man die Wahrheit und produziert dadurch Stereotype. Ich finde es aber intolerant und fatal, zu denken, dass die Denkprozesse der meisten Menschen abgeschlossen sind und dass sie als daher verloren ansehen muss. Man kann sie nicht auf eine Stufe mit den Ideologen stellen, an deren Einstellung man tatsächlich nichts mehr ändern wird.
Wie sieht der mündige Kunst- und Kulturkonsument für dich aus?
Er entscheidet selbst, wie lange er Kunst genießen will und lässt sich in Bezug auf die Erkenntnisse und Eindrücke, die er dabei gewinnt, nicht von seinem Umfeld beeindrucken. Ich finde es nicht schlimm, wenn ein Museumsbesucher durchschnittlich nur eine Minute vor einem Bild verbringt. Er kann von mir aus auch nur 15 Sekunden davor stehen, wenn diese ihm ausreichen, um das Museum inspiriert zu verlassen.
Bist du enttäuscht, wenn ein Zuschauer keinen Zugang zu deinen Inszenierungen findet?
Keineswegs – ich bin auch nicht enttäuscht, wenn jemand den Raum verlässt oder mit meiner Art von Kunst nichts anfangen kann.
Ich habe das Gefühl, dass man gerade im Moment als junger Regisseur sehr stark daran arbeiten muss, eine Marke zu werden.
Ja, weil sie vielleicht den Glauben an die Kraft, die dieser Raum hat, verloren haben. Die Institutionen, die dahinter stehen, sind so mächtig geworden, dass man oft in andere Kunstsparten ausweichen muss, um sich künstlerisch verwirklichen zu können.
Was macht für dich trotz aller Schwierigkeiten den Reiz des Theaters aus?
Neben dem Live-Charakter vor allem die Tatsache, dass das Theater ein sozialer Raum ist, der viele unterschiedliche Menschen zusammenbringt – beziehungsweise zusammenbringen könnte.
Wäre es dein Ziel, mit einem deiner Projekte in den nächsten Jahren zu einem großen Festival wie dem Berliner Theatertreffen eingeladen zu werden?
Daran denke ich tatsächlich nicht. Auch nicht an Institution, an der ich gerne arbeiten würde oder eine bestimmte Verwertung meiner Arbeiten. Wim Wenders hat einmal gesagt: „Man kann ein Projekt mit dem Drehbuch beginnen, oder mit dem Filmplakat“. Ich kann definitiv nicht mit dem Filmplakat anfangen.
Für mich wäre eine gesunde Mitte die optimale Lösung. Wer heute einen Film dreht und nicht über die Wahl des Szenenfotografen nachdenkt, verpasst die Chance, dass die eigene Arbeit nachher eine sehr gute Sichtbarkeit in der Presse bekommt.
Auf jeden Fall. Ich glaube, beim Film muss man sowie einige Prozesse, die mit der Vermarktung des Produktes zu tun haben, mehr mitdenken, als beim Theater.
Wie näherst du dich normalerweise einem neuen Stoff an?
Ich arbeite momentan aus einer Idee oder einem Thema heraus – dann kommt das Material dazu. Gerade beschäftige ich mich beispielsweise mit moderner Sklaverei.
Was wäre dein langfristiges Ziel als Regisseur?
Zu mir hat einmal jemand gesagt: „Wenn du ein Lob bekommst, ist das nur eine andere Form von Bestrafung. Denn dann wirst du es immer wieder so machen“. Ich möchte keine Fließbandarbeit produzieren und als eigenständiger Künstler wahrgenommen werden. Man sollte schließlich keine „Light-Version“ eines großen Künstlers werden, sondern die richtige Version von sich selbst sein.
Lieber Moritz: Ich bin sehr froh, dass ich dich und deine Arbeit durch meinen Blog kennenlernen durfte und wünsche dir ganz viel Erfolg in Hamburg! Vielen herzlichen Dank für dieses tolle Interview und alles Gute weiterhin auf deinem künstlerischen Weg.
Mehr Infos über das Körber Studio Junge Regie:
https://www.koerber-stiftung.de/koerber-studio-junge-regie
https://www.thalia-theater.de/programm/festivals/koerber-studio-junge-regie
2019-Programmheft-Koerber-Studio-Junge-Regie