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Allgemein Bühnengeflüster Interviews

#Interview mit Nils Strunk

© Jim Rakete

Er ist einer Preisträger der diesjährigen Förderpreise der Freunde des Residenztheaters und ein politisch hochengagierter Schauspieler: Anlässlich der Blogparade #DHMDEMOKRATIE, zu der das Deutsche Historische Museum Berlin noch bis 28. Mai 2019 aufruft, habe ich mich mit dem Schauspieler Nils Strunk über sein politisches Engagement und über die Frage, ob Demokratie und Theater sich gegenseitig ausschließen, unterhalten…

Schon bei seinem ersten Auftritt auf der Bühne des Residenztheaters im Mai 2017 bebte der Theaterraum: Inmitten eines eisigen Trümmerfelds menschlicher Existenz wies Nils Strunk als Hippolyt in Martin Kušejs Inszenierung Phädras Nacht jede noch so zärtliche Annäherung seiner Stiefmutter Phädra (Bibiana Beglau) harsch zurück. Tiefer als jeder Eissplitter bohrten sich die zerstörerische Worte dieses charmanten Narzissten in das Herz der ihm vollkommen verfallenen Phädra. Es war ein teuflisch guter Kampf um Liebe, Macht und Anerkennung, den der Newcomer im Ensemble des Residenztheaters und die für ihre expressiven Rolleninterpretationen gefeierte Bibiana Beglau miteinander auf der Bühne ausfochten.

Nils Strunk als William Bloom in „Foxfinder“, © Matthias Horn

Wenige Wochen später sah ich Nils Strunk im Juli 2017 in Foxfinder wieder – eine Inszenierung, die im Rahmen des Festivals Marstallplan von der ehemaligen Regieassistentin Mirjam Loibl als erste eigene Arbeit am Haus präsentiert wurde. In dem Stück des amerikanischen Autors Dawn King spielte Nils den sogenannten „Foxfinder“ William Bloor, der  in Zeiten wirtschaftlicher Not und einer von der Regierung hervorgerufenen, diffusen Angst vor der Bestie Fuchs im Auftrag der Regierung über das Schicksal anderer Menschen entscheiden darf. Es war faszinierend mit anzusehen, wie es Nils Strunk als William Bloor langsam, aber zielsicher gelang, das Ehepaar Samuel (Thomas Gräßle) und Judith (Lilith Häßle) mit dem Gift des Misstrauens und des Zweifel zu infizieren, bis das Leben dieser beiden aufrichtigen Bürger endgültig in Trümmern lag.

Dass der 1990 geborene und in Lübeck aufgewachsene Nils Strunk sich nicht damit begnügt, eine attraktives Erscheinungsbild auf der Bühne abzugeben, machte er bereits in seinen beiden Einstiegsinszenierungen am Haus klar. Nach dem Abitur arbeitete er unter anderem an der Berliner Staatsoper, danach folgten mehrere Regiehospitanzen und -assistenzen. Anschließend studierte er Schauspiel an der renommierten Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin und spielte währenddessen an der Staatsoper im Schillertheater, am Deutschen Theater Berlin und an der Schaubühne. 2015 trat er sein erstes Engagement am Staatstheater Wiesbaden an dessen Ensemble er bis 2017 angehörte.

Nils Strunk als „Don Karlos“ in Martin Kušejs gleichnamiger Inszenierung 2018 ©Matthias Horn

In seiner ersten Spielzeit am Residenztheater übernahm Nils Strunk unter anderem die Titelrolle als Don Karlos in Martin Kušejs gleichnamiger Inszenierung und war darüber hinaus in den Inszenierungen Für immer schön und Der Balkon zu sehen. Im Oktober 2018 feierte er als hitzköpfiger französischer Revolutionär Jean Paul Marat Premiere in Tina Laniks Inszenierung von Marat/ Sade, einem Dokumentartheaterstück von Peter Weiss aus den 1960er Jahren. Die Figur des Jean Paul Marat stellte sich als die Paraderolle schlechthin für den politisch sehr interessierten und engagierten Nils Strunk heraus, der sich zu Studienzeiten öffentlich für den Neubau seiner Schauspielschule einsetzte und 2017 den SPD-Bundestagskandidaten Martin Schulz aktiv im Wahlkampf unterstützte.

Der echte Jean Paul Marat war übrigens Journalist und einer der Wortführer der Jakobiner, bis er im Juli 1793 von einer jungen, adligen Frau in seiner Badewanne erstochen wurde. Zwischen geschichtsphilosophischer Reflexion und einem rasanten Theaterspektakel bewegt sich Tina Laniks Inszenierung am Residenztheater, die ich mir in diesem Februar 2019 bereits zum zweiten Mal ansah. Als Marat nutzte Nils bei jeder Vorführung die Gelegenheit, in einer Rede an das Volk – beziehungsweise in seinem Fall an das bürgerliche Residenztheater-Publikum – nicht nur mit Peter Weiss‘ Worten zu sprechen, sondern auch tagesaktuelle Bezüge in seinen Monolog mit einzubauen, die bei manch einem Zuschauer überraschende Reaktionen hervorriefen.

Dass Nils Strunk nicht nur ein begnadeter Redner, sondern auch ein sehr begabter Musiker ist, stellte er mit seiner Schlagerrevue Glitzer! unter Beweis, die er im vergangenen Jahr im Marstall präsentierte. Und als DJ lässt er seit 2017 jede Premierenfeier im Residenztheater, bei der er auflegt, zu einem Happening werden.

Er möchte etwas bewegen und etwas verändern in einem Kulturbetrieb, der ihm bisweilen zu sehr in seinen bestehenden Strukturen festgefahren erscheint. Ich traf Nils Strunk im Februar 2019 zum Interview in der Kantine des Residenztheaters.

 

Du kommst gerade von einer Aufführung der Inszenierung „Marat/ Sade“.  Ich fand es toll, diesen beeindruckenden Theaterabend nach der Premiere im September 2018 heute noch einmal zu sehen. Denn viele Szenen haben noch einmal an Dynamik und Tempo dazu gewonnen.

Das freut mich sehr zu hören! Und das, obwohl heute unsere Drehbühne ausgefallen ist und wir ganz schön improvisieren mussten…

Im Ernst?

Ja, in dem Moment, als sie sich eigentlich am meisten dreht und wir sehr viel Auf- und Abgänge durch die vielen Türen haben. In einem Moment, in dem eine Drehbühne ausfällt, kann man die Vorstellung nicht einfach abbrechen…

Wie verständigt man sich denn in so einem Fall auf der Bühne innerhalb eines Ensembles?

Man muss sich ziemlich schnell etwas einfallen lassen. Ich war auf einmal früher, als geplant, auf der vorderen Seite der Bühne. Thomas Lettow saß auf einmal schon oben auf der Bühne und als mir der Chor entgegenkam, bin ich einfach vor ihm weg gerannt. Immerhin stand die Badewanne als Ankerpunkt ganz vorne. Wenn also gar nichts mehr gegangen wäre, hätten wir einfach in und um sie herum weitergespielt.

Sehr gutes Schauspiel rettet einen Schauspieler also über so manches technische Problem hinweg.

Manchmal ist man wirklich extrem abhängig von der Technik.

Nils Strunk als Jean Paul Marat © Matthias Horn

Findest du das nicht erschreckend als Theaterschauspieler?

(Auftritt eines sehr netten Kantinen-Mitarbeiters, der Nils Strunk nach einem neuen W-LAN-Passwort fragt. Nils muss ihn auf später vertrösten, verspricht aber, sich darum zu kümmern).

Ich versuche immer, die Leute hier heimlich mit W-LAN Tickets zu versorgen.

Der Robin Hood des Residenztheaters!

(Lacht) Zurück zu deiner Frage nach der Technik: Es gibt durchaus Formen, innerhalb derer man als Schauspieler große Freiheiten entwickeln kann. Wenn die Form wegfällt, weil die Bühnenkonstruktion ein großer Teil von ihr ist, dann zeigt sich, was die Schauspieler und der Apparat um sie herum können. Das Risiko, das die Technik mit sich bringt, muss man meiner Meinung nach aber eingehen, wenn man überspitzt gesagt auf Dauer nicht nur Texte aufsagen und gegen Möbel laufen möchte. Spannenderweise wird man an Abenden wie heute, wenn man als Schauspieler auf etwas Unvorhergesehenes auf der Bühne reagieren muss, wahnsinnig wach.

Vielleicht hat ja jemand bewusst an ein paar Schrauben gedreht…

Ich würde das machen, wenn ich Regisseur wäre! Es gibt Bühnen, die so konstruiert sind, dass du darauf keine Vorstellung so spielen kannst, wie die darauffolgende. Das ist hier am Haus zum Beispiel in Andreas Kriegenburgs Inszenierung Der Spieler der Fall, wo sich die Bühne permanent bewegt und die Kolleginnen und Kollegen nicht wissen, wo sie genau als nächstes landen.

Aber die Grundstruktur einer Inszenierung kann man doch nicht von Vorstellung zu Vorstellung immer wieder verändern, oder? 

Ich glaube, es besteht ein Unterschied darin, ob man immer etwas Neues macht oder etwas immer wieder neu macht. Es ist einfach grundsätzlich spannend, wenn Schauspieler sich spontan etwas überlegen müssen.

Sieht so dein Ideal in Bezug auf sehr gutes Schauspiel aus?

Es gibt glücklicherweise so viele Varianten und Ausprägungen unserer Kunst, dass man sich meiner Meinung nach manchmal arg in Debatten darüber verliert, was die „richtige“ Art ist, Theater zu machen. Es wäre doch wahnsinnig schade, wenn es nur einen einzigen Zugang zum Theater gäbe. Alles hat für mich seine Berechtigung, solange die Bühnenkunst dabei lebendig bleibt.

(Ein Zuschauer, der sich gerade den „Marat/ Sade“-Abend angesehen, kommt an unseren Tisch).

Zuschauer: Ein Freund von mir hat mich eingeladen, heute mit ihm ins Residenztheater zu gehen. Meine Frau meinte noch zu mir: „Oh, starker Tobak“. Nun bin ich ganz hin und weg nach diesem Abend! Jetzt müsste ich anfangen zu recherchieren und mir dann mir dann mit meinem neu erworbenen Wissen und meiner Erinnerung an den heutigen Abend die Inszenierung noch einmal ansehen.

Was hat Ihnen besonders gut an diesem Abend gefallen?

Zuschauer: Ich hatte zunächst die Assoziation, dass alles schwarz-weiß ist. Und dann kommt plötzlich die Farbe ins Spiel! Von Beginn des Abends an habe ich in dieser Inszenierung die Parallelen zu unserer heutigen politischen Situation gesehen. Mit dem, was da momentan innen- und außenpolitisch bei uns abläuft, bin ich nämlich absolut nicht einverstanden. Übrigens Nils: Das politische Statement, das du von dir gegeben hast, fand ich klasse! Gibt es das irgendwo nachzulesen?

Nils Strunk: Gute Frage. Verrät ein Zauberer seine Zaubertricks? Aber ich sage Ihnen das gerne: Es gibt tatsächlich diese Rede in dem Stück von Peter Weiss, in der überraschend viele Parallelen zu unserer heutigen politischen Situation stecken. Aber natürlich sind viele Details der „Marat“-Rede, die Sie heute auf der Bühne erlebt haben, improvisiert.

Nils Strunk und Lilith Häßle (r.), die Preisträger der beiden Förderpreise der Freunde des Residenztheaters 2019, mit Juliane Köhler, die in diesem Jahr den Kurt-Meisel-Preis der Resi-Freunde für besondere künstlerische Verdienste erhielt © Adrienne Meister

Bei der Premiere hast du beispielsweise noch nicht von dem bayerischen Volksbegehren für Artenvielfalt gesprochen…

Ja, aber es gibt auch immer den Punkt, wo ich Angst habe, dass die Rede zu lang werden könnte.

Zuschauer: Für mich war sie eigentlich viel zu kurz! Ich hätte dir noch stundenlang weiter zuhören können.

Nils Strunk: Das ist doch das beste, was einem Zuschauer und einem Schauspieler passieren kann.

Zuschauer: Die fast zwei Stunden Spielzeit sind für mich wie im Flug vergangen. Und die schauspielerische Leistung, die du da ablieferst: Kompliment! In dieser glatten Badewanne, in der man jederzeit abrutschen kann…

Nils Strunk: Wollen Sie eine Horrorgeschichte aus der Probenzeit hören? An den Badewannen-Seiten ist Klebeband angebracht, damit mein Kollege Thomas Lettow und ich darauf herumklettern können und dabei nicht abrutschen. Aus Versehen steckten in diesem Klebeband kleine Glaspartikel, die irgendwie in der Badewanne gelandet sind. Mein Körper brannte wie Feuer, aber ich wusste nicht, woher die Schmerzen kommen.

Das machen sie also am Theater mit den Schauspielern, damit sie sich richtig in ihre Rolle einfühlen können…

Nils Strunk: Oh ja, wir werfen uns hier richtig rein. (lacht). Man sollte nicht zu leichtsinnig werden auf der Bühne.

Zuschauer: Ich wollte dir einfach ein großes Dankeschön für diesen Abend sagen!

Nils Strunk: Vielen Dank.

(Der Zuschauer wendet sich seinem Freund zu).

Theater im realen Leben finde ich immer noch am schönsten!

Schon toll, wenn jemand direkt auf dich zukommt und sich für einen Abend bedankt…

Macht man Theater als Schauspieler genau für diese Momente?

Vielleicht nicht dafür, aber deswegen sehr gerne. Dass wir mehrere Male in der Woche Applaus für unseren Job bekommen, ist ein bauchpinselnder, sehr schöner Nebeneffekt unseres Berufs. Karl Lagerfeld hat es mal ganz treffend formuliert: „Arbeit ist etwas anderes – ich mache Freizeitgestaltung mit beruflichem Hintergrund“, oder so ähnlich. Ich kann das durchaus auf mich anwenden, da dieser Beruf trotz vieler Zwänge und Verpflichtungen auch viele Freiheiten mit sich bringt. Man ist aber natürlich nicht nur Schauspieler geworden, um geliebt zu werden. Ich meine, dass ich heute in den ersten Reihen ein paar „Buhs“ gehört habe bei meiner Verbeugung. Auch damit muss man umgehen lernen und auch das gibt einem sogar ein bisschen was. Es gibt Schauspieler, die einem glaubhaft klar machen wollen, dass sie ihren Job nicht für den Applaus oder die eigene Berühmtheit machen. Ganz ehrlich: Jeder von uns hat doch einmal damit begonnen, dass er gerne vor Leuten gesprochen oder sich gerne verkleidet hat.

War das auch dein Motor dafür, Schauspieler zu werden?

Es war eigentlich nie mein Plan, diesen Beruf zu ergreifen. Das habe ich eher dem Zufall zu verdanken.

Wirklich? Also mich hat deine Bühnenwirksamkeit von der ersten Sekunde, als ich dich in deiner Einstiegsinszenierung „Phädras Nacht“ am Residenztheater gesehen habe, sehr beeindruckt.

Das freut mich sehr zu hören – auch wenn ich es kaum glauben kann.

War es dein Plan als junger Schauspieler, es ganz bis nach oben zu schaffen?

„Ganz bis nach oben schaffen“ finde ich schwer zu definieren. Für den einen bedeutet es, einen Preis zu gewinnen, für den anderen, zum Theatertreffen eingeladen zu werden und für den nächsten, viel Geld zu verdienen. Ich habe während meines ersten Engagements am Staatstheater Wiesbaden unglaubliche Kollegen kennengelernt, die die Schauspielerei mit sehr viel Leidenschaft und Talent betrieben haben. Vielen ging es gar nicht darum, an einem „Angebertheater“ zu landen, sondern sich in diesem Theater ihrer Stadt die Seele aus dem Leib zu spielen und jeden Abend ihr Bestes auf der Bühne zu geben. Oder es geht ihnen einfach nur darum, von ihrem Beruf leben zu können.

Bei dir habe ich das Gefühl, dass die große Aufmerksamkeit für deine Person einfach da ist, ohne dass du bewusst beim Zuschauer darum buhlen musst.

Ich kann meine Bühnenwirksamkeit selber nicht gut einschätzen. Aber im Privatleben liebe ich es durchaus, mich innerhalb einer Menschenmenge zu bewegen, mit anderen zu kommunizieren und zusammen Reden zu schwingen. Ein Grund, warum ich diesen Beruf so mag, ist der Kontakt zu so vielen tollen, verrückten Menschen. Dieser Dauer-Ausnahmezustand, in dem wir leben, ist großartig.

Ich stelle es mir aber auch anstrengend vor, sich ständig in verschiedene Rollen hineindenken zu müssen. Schließlich gibt es auch die Tendenz, sich in diesen Rollen zu verlieren.

Ich habe es früher immer belächelt, wenn ich nach dieser Seite meines Berufs gefragt wurde. Aber ich glaube, ich habe unterschätzt, dass ein Theaterabend Spuren bei einem hinterlässt. Nach der dritten Probewoche von Don Karlos merkte ich plötzlich, wie ich meine Kollegen genauso paranoid beäugte, wie Karlos die Menschen um sich herum. Manchmal habe ich nachts im Halbschlaf zum Beispiel auch das Gefühl, dass ich gerade auf der Probe bin und mich dort schlecht umgedreht habe oder ähnliches – und dass ich das nochmal besser machen muss. Aber vielleicht wacht ja auch eine Marketing-Managerin wie du nachts auf und wird von den Slogans, die sie täglich in der Arbeit erfinden muss, verfolgt.

In einer gewissen Art und Weise spielen wir alle immer eine Rolle. Ich finde, dass die Figuren, die ihr hier am Haus und anderswo auf der Bühne verkörpert, sehr viel mit euch privat zu tun haben. Warum glaubst du, dass du für die Rolle des Marat in „Marat/ Sade“ und für die Titelrolle in „Don Karlos“ ausgewählt wurdest?

Als Schauspieler denkt man natürlich erstmal ganz kühn, dass man sich doch in alles und jeden verwandeln kann. Ich merke jetzt, wo ich parallel als Gastdozent an einer Schauspielschule arbeite – also mal auf der anderen Seite sitze – dass es eben doch ziemlich klar scheint, wer auf eine bestimmte Weise zu einer Figur passt und umgekehrt. Was Marat und Don Karlos eint, ist ihr starker Wille, etwas zu bewegen, an etwas Bedeutsamen teilzuhaben und dabei natürlich auch Macht auszuüben. Don Karlos hat viel Energie, will diese sinnvoll einsetzen und ist dabei permanent über- und gleichzeitig unterfordert. Eine Parallele von Marat, Don Karlos und mir ist vielleicht auch eine bestimmte Angewohnheit politischen Handelns, mit der wir durchs Leben gehen. Mein Mentor, der Fotograf Jim Rakete, hat einmal zu mir gesagt: „Du willst eigentlich ein Tribun sein, keine demokratischen Mehrheiten bilden, sondern eine Bewegung gründen und sie auf die andere Seite des Flusses bringen“. Damit hat er leider ein bisschen Recht.

Ist dieser Marat, den du auf der Bühne des Residenztheaters darstellst, wirklich ein Freund des Volkes oder nicht einfach ein verblendeter Revolutionstheoretiker?  

Über den historischen Marat erlaube ich mir kein Urteil. Der Marat in Peter Weiss’ Stück ist meiner Meinung nach sehr überfordert damit, dass so viele Dinge um ihn herum schief laufen. Es ist interessant und erschreckend zugleich, wie scheinbar demokratisch gesinnte Zuschauer einem zustimmen, wenn ich in der Rolle als Marat auf der Bühne davon spreche, dass man Victor Orban in die Guillotine packen sollte. Dieses Bedürfnis, in einer Nacht mit allem aufzuräumen, wird nie ganz verschwinden – weil es sich eben so einfach anhört.

Auf Vimeo ist ein Video zu finden, wo du mit deinen Studienkollegen den Neubau der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch in Berlin verteidigst.

Ja das war eine sehr sinn- und identitätsstiftende Zeit für mich! Ein schönes Gefühl, von einer Idee gebraucht zu werden, sich für sie engagieren zu können und damit auch noch Erfolg zu haben. Ha!

Du hast später Martin Schulz unterstützt, woran ist er deiner Meinung nach gescheitert?

Der Grund, warum ich ihn damals unterstützte, waren seine Ideen für ein vereintes Europa. Als ich Martin Schulz vor einigen Jahren bei einem Abendessen mit Kulturschaffenden in München kennenlernte, machte ich ihm klar, dass mir die Forderungen der SPD in Bezug auf Europa nicht weit genug gehen. Für mich, der 1990 geboren wurde, ist Europa keine Errungenschaft, keine Utopie, keine Idee – sondern erst einmal gelebte Normalität. Für meine Generation müsste man also eine Vision dafür entwickeln, wohin es mit Europa in den nächsten Jahren und Jahrzehnten gehen soll. Die Vereinigten Staaten von Europa zum Beispiel? Schulz und ich trafen uns in diesem Thema. Und ein ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments als nächster Bundeskanzler – mehr Europa geht definitiv nicht, dachte ich 2017. Doch dann hat er das Thema Europa einfach aus seinem Wahlkampf gestrichen. Daran ist er meiner Ansicht nach gescheitert, und an seinen schlechten Beratern. Aber das weiß er.

Seid ihr heute noch in Kontakt?

Ja, in unregelmäßigen Abständen telefonieren wir immer wieder und tauschen uns aus.

Müssen wir nicht dafür sorgen, dass die Leute, die an der Macht sind, nicht nur schöne Reden schwingen, sondern auch aktiv etwas für den Erhalt der Demokratie tun?

Absolut.

Das ist der Grund, warum ich Angela Merkel, die sich in Sachen Selbstdarstellung und -inszenierung zurückhält, sehr schätze.

Ich fand, dass wir mit ihr eine respektable Kanzlerin hatten, als sie sagte: „Wir schaffen das“. Dann allerdings gab es zu wenige Vorschläge, wie man diese Geflüchteten aktiv in unsere Gesellschaft integrieren könnte.

Es ist aber auch wahnsinnig schwer, diese Vorschläge zu liefern.

Deshalb bin ich der Meinung, dass man Politiker eigentlich unterstützen, den Kontakt zu ihnen suchen, sich mit ihnen auseinandersetzen und streiten sollte. Die politischen Ämter haben an Würde verloren, weil wir den Menschen dahinter zu wenig Respekt entgegenbringen.

Müsste man denn nicht als politisch hochengagierter Schauspieler seinen nächsten Sommerurlaub canceln und in einem Flüchtlingsheim aushelfen?

Ich habe das mal versucht. Als es 2015 die großen Migrationsbewegungen gab, habe ich danach mit meinen Kolleginnen und Kollegen am Wiesbadener Staatstheater Integrationskurse für Geflüchtete gegeben. Danach war ich vollkommen ausgebrannt, weil diese Aufgabe einfach so unglaublich anstrengend und zermürbend war. Für mich fühlte es sich am Anfang ganz groß an, später dann wie ein Scheitern.

Aber du hast aktiv etwas dazu beigetragen, dass die Flüchtlinge eine Chance haben, in unserer Gesellschaft anzukommen. 

Vielleicht am Anfang auch aus dem eitlen Willen heraus, Teil dieser Bewegung zu sein. Dieser Wille wurde dann vielleicht weniger eitel, als man sich um immer mehr Menschen wirklich ernsthaft kümmern musste. Ich habe großen Respekt vor all den Leuten, die sich immer noch engagieren – wie meine Schwester zum Beispiel.

Gutes tun und dabei im Rampenlicht oder auf dem Roten Teppich zu stehen, ist ja derzeit gerade unter Schauspielern sehr beliebt.

Es wäre falsch, pauschal jedes Engagement eines Schauspielers gutzuheißen – aber auch, es zu verteufeln. Da muss man den Einzelfall betrachten. Wenn Leonardo DiCaprio seine Popularität nutzt, um auf den Klimawandel aufmerksam zu machen, finde ich das gut – denn bei ihm handelt sich um ein langfristiges Engagement. Wenn man durch seinen Job eine öffentliche Rolle in unserer Gesellschaft einnimmt, dann kann man diese Öffentlichkeit meiner Meinung nach auch dazu nutzen, um mit anzupacken.

V.l.n.r.: Nils Strunk, Tim Werths, Franz Pätzold und Philip Dechamps in Antonio Latellas Inszenierung „Eine göttliche Komödie. Dante <> Pasolini“

Kunst und Politik sollten sich also unbedingt gegenseitig befruchten?

Heiner Müller hat einmal das Gegenteil gesagt: Dass sich Politik und Kunst überhaupt nicht berühren dürfen. Obwohl ich sein Werk verehre, kann ich das so nicht unterschreiben. Wir sind als Ensemblemitglieder des Bayerischen Staatsschauspiels von Berufswegen her schon mit der Politik verbunden. Dadurch haben wir aber meiner Meinung nach umso mehr den Auftrag, kritisch und wachsam zu bleiben. Mir fehlt manchmal das Aktivistische am Theater. Der Aufstand wird dort ab und zu geprobt, aber nicht wirklich durchgeführt.

Was in unserem Stadt- und Staatstheatersystem läuft derzeit deiner Meinung nach schief?

Die Produktionsweise und die Verteilung der Mittel. Für mich gibt es außerdem kein wirkliches System, sondern nur Menschen, die einen Usus erschaffen oder ihn zumindest erhalten. Eine Intendantin oder ein Verwaltungsdirektor entscheiden ja in wachem Zustand darüber, wie viel oder wie wenig Geld sie zum Beispiel einer Regieassistentin zahlen können. Oder eben auch wollen.

Und dann wird man eines Tages selbst Intendant und merkt, welche Zwänge um einen herum bestehen.

Vielleicht. Heute muss ich diese Kritik als Ensemblemitglied aber äußern.

Demokratie und Theater: Passt das überhaupt zusammen?

Demokratie und Theater gehören sogar zusammen. Demokratie bedeutet für mich aber nicht, dass auf der Probe alle permanent bei allem mitreden und über alles entscheiden dürfen, sondern, dass es eine Arbeitsteilung gibt, die für alle in Ordnung ist.

Wie erklärst du dir, dass es so viel Frust von Schauspielerseiten im gerade bestehenden Stadt- und Stadttheaterbetriebssystem gibt?

Es läuft vieles nicht optimal, aber es gibt das Prinzip der selbstverschuldeten Unmündigkeit, das durchaus auf viele von uns zutrifft. Wir sollten mehr darüber entscheiden wollen, was, wann und wie es geschieht. Nicht unbedingt in dem Moment, in dem geprobt wird: Da muss es sicher immer jemanden geben, der die Kreativität aller bündelt. Aber wer entscheidet darüber, welche Stücke an einem Haus gespielt werden? Oder darüber, ob jede Inszenierung wirklich ihre Premiere erleben muss? Wer hat die Hoheit über Inhalte? Die Spielerinnen und Spieler in jedem Fall nicht. Peter Steins Schaubühne ist für mich ein vorbildliches Beispiel für eine gelungene Verbindung aus charismatischer Führung und demokratischen Strukturen – einfach eine sehr kluge Form der Gemeinschaft. Viele sagen, sie sei damals gescheitert: Ich würde sagen, dieses Konzept war lange Zeit sehr erfolgreich.

Was wäre deine Vision für ein demokratischeres Theatersystem?

Die Frage, wie man ein stabiles, langfristiges Künstler-Ensemble aufbaut. Ich würde sowohl etwas gegen die große Fluktuation von SchauspielerInnen tun, die gerne auch drehen wollen, oder bei einem besseren Angebot sofort gehen, als auch gegen die Vormachtstellung der Regie. Sie ist das Nadelöhr, durch das alles andere erst einmal hindurch muss, wie Bernd Stegemann das einmal treffend formuliert hat. Das muss meiner Meinung nach nicht so sein. Ich glaube an die einzigartige und selbstständige Kraft des Schauspiels, des miteinander geteilten Moments und weniger an Konzepte und Glutamat. Beim Schauspielern stellt man jeden Abend aufs Neue unter Beweis, dass der Mensch die Fähigkeit hat, sich zu verändern.

Lieber Nils, ich danke dir ganz herzlich für dieses großartige Gespräch und wünsche dir alles Gute auf deinem weiteren (Theater-)Weg!


Mehr Infos über Nils Strunk: 

Nils Strunk

Mehr Infos über die Blogparade #DHMDEMOKRATIE

http://www.dhm.de/blog/2019/04/30/blogparade-was-bedeutet-mir-die-demokratie-dhmdemokratie/

Der Hashtag #DHMDemokratie steht für eine übergreifende Betrachtung der Demokratie, ihrer Bedeutung und ihren historischen Errungenschaften von 1919 bis heute. Diese spannende Blogparade wurde in Zusammenarbeit mit der von mir sehr geschätzten Kunsthistorikerin Tanja Praske entwickelt, deren Blog KULTUR – MUSEUM – TALK ich euch sehr ans Herz legen möchte.

10 Antworten auf „#Interview mit Nils Strunk“

Liebe Lena,

was für ein großartiges Interview und ein fantastischer Beitrag zu #DHMDemokratie!

Theater und Demokratie war meine Hoffnung, dass Gedanken dazu kommen. Ich muss gestehen, ich kannte den Schauspieler noch nicht, mich fasziniert seine Einstellung, Engagement und Vielfältigkeit. Wenn ich dann noch Marat lese, dann habe ich wohl sehr bald ein Date. Wird das noch mit einem Absacker im Marstall begleitet, dann weiß ich nicht, was mich noch hält.

Über die Aussage „ich [bin] der Meinung, dass man Politiker eigentlich unterstützen, den Kontakt zu ihnen suchen, sich mit ihnen auseinandersetzen und streiten sollte. Die politischen Ämter haben an Würde verloren, weil wir den Menschen dahinter zu wenig Respekt entgegenbringen.“ stolperte ich. In abgeschwächter Form kam es schon während der Blogparade auf, jedoch ohne den Zusatz „wenig Respekt“. Manchesmal ist es allzu leicht, zu wettern und sich darin zu vergessen.

Merci für die vielen Gedankenstränge, die Nils hier mit dir ausbreitet. Allein dafür hat sich die Blogparade schon mehr als gelohnt. Es sind bislang 23 facettenreiche Beiträge, die zeigen, dass das Thema Demokratie berührt. Für mich war es schon ein Experiment, ich gebe es zu, umso mehr flasht es mich, dass Themen wie diese im Netz mit so viel Respekt diskutiert werden können.

Dir ein ganz herzliches Dankeschön und Nils auch – wow!

Schönen Abend,
Tanja von KULTUR – MUSEUM – TALK

Liebe Tanja,

mit #DHMDemokratie hatten das Deutsche Historische Museum und du wieder einmal eine großartige Idee für eine Blogparade, die gerade in keine spannendere Zeit fallen könnte! Vielen herzlichen Dank für deinen ausführlichen Kommentar zu meinem Interview mit Nils Strunk. Die Offenheit und Ehrlichkeit, die er in dem Gespräch mit mir gezeigt hat, schätze ich wirklich sehr. Ich bin mir sicher, dass man von diesem jungen Schauspieler noch sehr viel hören wird: Ob als Darsteller auf der Bühne, als Gründer seiner eigenen Partei oder gar als Bundeskanzler 🙂

Liebe Grüße und bis bald hoffentlich wieder bei einer kulturellen Veranstaltung oder einem Bloggerevent!

Lena

Liebe Lena,
Sehr spannender und interessant geschriebener Beitrag. Besonders der Abschnitt „Der Robin Hood des Residenztheaters“ hat mich sehr inspiriert.
Freue mich schon auf deinen nächsten Artikel.
Nächtliche Grüße aus Dresden
Martina H.

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