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#Interview mit dem Schauspieler Thomas Reisinger

© Lucia Hunziker

Seit der Spielzeit 2019/2020 ist der Schauspieler Thomas Reisinger Ensemblemitglied am Münchner Residenztheater. Ein Gespräch inmitten des Münchner Kulturstrands über den Wechsel von Basel nach München, Speed-Dating auf der Bühne, Thomas‘ Podcast-Reihe ROMAN und eine Biene Maja-Inszenierung mit ungeahnten Folgen.

Zweieinhalb Monate nach dem Beginn des Corona-Lockdowns begegnete ich Thomas Reisinger ganz unerwartet während der Generalprobe des Theaterparcours durch das Residenztheater in der Transportzone des Hauses. In seiner Rolle als Handwerksmann ließ der Schauspieler sein Publikum eintreten in eine Welt, die man normalerweise nur aus dem Zuschauerraum kennt. Es roch nach Neuanfang, nach Betriebsamkeit, nach Aufbruch: Und doch lag auch eine große Wehmut in der Luft, als uns dieser Handwerker erklärte, dass viele wunderbare Theaterberufe wie der „Kascheur“ im Laufe der vergangenen Jahrzehnte ausgestorben sind.

Über seinem leidenschaftlichen Vortrag vergaß er, den entscheidenden Schuss aus dem Bühnen-Off für die gerade laufende Aufführung der „Sommergäste“-Inszenierung von Nora Schlocker zu geben. Theater, das ist der gelebte Live-Moment und die vielen unvorhersehbaren Dinge, die während eines Abends auf der Bühne passieren können.

Erst vor wenigen Monaten habe ich Thomas Reisinger bei einer Premierenfeier im Residenztheater kennengelernt. Wie ich selbst ist auch er sehr aktiv ist in den sozialen Netzwerken – daher standen wir während des Corona-Lockdowns immer wieder miteinander in Verbindung.

Geboren 1966 in Wien, wurde Thomas Reisinger an der Schauspielschule Krauss in Wien und am Lee Strasberg Theatre Institute in New York zum Schauspieler ausgebildet und war unter anderem am Wiener Volkstheater, am dortigen Schauspielhaus und am Burgtheater engagiert. Mehrere Spielzeiten erlebte ihn das Publikum als Ensemblemitglied auf der Bühne des Theater Basel, wo er mit Regisseur*innen wie Barbara Frey, Nora Schlocker, Stefan Bachmann, Sebastian Nübling, Dani Levy und Nuran David Calis zusammenarbeitete. Neben seinen Theaterengagements steht Thomas Reisinger regelmäßig für Film- und Fernsehproduktionen wie „Tatort“, „Soko Donau“ oder „Copstories“ vor der Kamera.

Ich erlebte ihn zum ersten Mal im Oktober 2019 in der Sommergäste-Inszenierung von Joe Hill-Gibbins auf der Bühne des Residenztheaters. Sein Arzt Kirill Akimowitsch Dudakow ist ein vom Leben enttäuschter Mann besten Alters, den seine beruflichen Aufgaben nicht ausfüllen. Ein bisschen erinnert mich diese Figur an Roman Bergner, den Protagonisten aus Thomas Reisinger Fortsetzungsroman ROMAN, den er in den vergangenen Monaten als wöchentliche Videopodcast-Reihe auf seinem Instagram-Kanal veröffentlichte. Bergner ist 47, geschieden und ein klassischer Antiheld, der glaubt, alles in seinem Leben richtig gemacht zu haben – bis er eines besseren belehrt wird. Die letzte Folge des sehr ironischen und immer wieder auch sehr melancholischen Podcast-Formats von Thomas Reisinger gestaltete er übrigens zusammen mit einem ganz besonderen Gast: Der Schauspielerin Sandra Hüller.

Ich traf Thomas Anfang Juli 2020 inmitten des Münchner Kulturstrands auf dem Isarbalkon an der Corneliusbrücke zu einem ausführlichen Gespräch über seine Theaterleidenschaft, die Corona-Krise, München und eine besondere Biene Maja-Inszenierung mit Happy End.

 

Auf deinem YouTube-Kanal sieht man eine digitale Theaterinszenierung, die heute geradezu visionär wirkt: Wie kam es vor genau 20 Jahren am Theater Basel zu der Idee, Sarah Kanes Stück „Gier“ in die Wohnung von dir und deinen drei SchauspielkollegInnen zu verlegen?

Ich fand es damals spannend, Sebastian Nüblings Inszenierung filmisch neu zu interpretieren. Die vier Figuren aus Sarah Kanes Drama sollten wie die Geister derjenigen Personen wirken, die einst voller Leben steckten. Ganz am Schluss gibt es einen sehr subtil gestalteten Moment, an dem man als Zuschauer begreift, wie der Tod von jeder Figur Besitz ergriffen hat.

Wie kann ich mir den Entstehungsprozess dieses filmischen Gesamtkunstwerkes vorstellen?

Der kristallisierte sich eigentlich als sehr einfach heraus: Da wir durch die Probenarbeit mit Sebastian Nübling so vertraut waren mit Sarah Kanes Stück, hatten wir eine klare Vorstellung davon, was wir in jeder der vier Wohnung drehen wollten. Mein Kollege Tom Schneider und ich saßen nach unserem Dreh zwei Wochen lang Tag und Nacht an dem riesigen Computer im  Theater Basel, um  das gesamte Material zusammen zu schneiden. Es bedurfte damals einer wahnsinnigen Rechenleistung, um das gesamte Material anschließend auszuspielen. Heute ließe sich ein Film wie „Gier“ viel schneller und vor allem einfacher produzieren.

Wie viel Theater steckte für dich in dieser digitalen Performance?

Sehr viel! Die Auseinandersetzung mit Sarah Kanes Text fand in unseren eigenen Wohnungen zwar auf eine etwas andere Art und Weise, als auf der Bühne statt – aber sie war deswegen nicht weniger intensiv.

Das Theater Basel spielt in deiner beruflichen Laufbahn eine wichtige Rolle. Gleich zwei Mal warst du zwischen 1998 und 2007 und zwischen 2015 und 2019 dort engagiert.

Vor allem mit der „Basel 1“-Phase meines Lebens sind sehr viele Emotionen verbunden. Schließlich habe ich in meiner Anfangszeit an diesem Theater meine Frau Katja kennengelernt, die dort ihr erstes Engagement hatte.

Was hat dich 2015 dazu bewogen, an dieses Haus zurückzukehren?

Ich fand das, was Andreas Beck und sein Leitungsteam dort vor hatten, sehr spannend. Zugegebenermaßen fühlte es sich damals nach einer sehr intensiven Zeit in Wien etwas seltsam an, plötzlich wieder in Basel zu sein. Als wir dann aber sogar die Möglichkeit hatten, wieder in unsere alte Wohnung zu ziehen, war das wie ein Wink des Schicksals.

Hat es einige Zeit gebraucht, bis du dich am Theater Basel wieder zu Hause gefühlt hast?

Ich erzähle dir eine sehr witzige Geschichte: Direkt nach meiner Ankunft in Basel war ich mit meiner Familie schwimmen. In dem Moment, in dem ich in den Rhein steige, schreit jemand laut neben mir: „Wahnsinn, der Parsifal ist wieder da!“.

Es ist ein sehr schönes Gefühl, zu wissen, dass man etwas in einer Stadt hinterlassen hat und dass sich die Leute auch nach einigen Jahren der Abwesenheit immer noch an einen erinnern.

Absolut. Basel ist eine kleine Stadt und das Publikum bleibt einem sehr treu und gewogen, wenn man es einmal für sich eingenommen hat.

Seit einem Jahr bist du nun mit deiner Familie in der Großstadt München gelandet.

So sehr ich Basel liebe: Ich habe mich wirklich sehr auf München gefreut. Ich kenne die Stadt seit meinen Teenager-Jahren, in denen ich der Stadt von Zeit zu Zeit immer wieder einen Besuch abstattete.

 

Bist du damals schon hier ins Theater gegangen?

Ja. Aber Mitte der 1980er Jahre zog es mich nie ins Residenztheater, sondern immer in die Kammerspiele! „Staatstheater“: Diesem Begriff haftete etwas Verstaubtes, Altbackenes an… Ich hätte mir damals nicht vorstellen können, dass so ein Ort irgendwann zu meinem Arbeitsplatz werden würde.

Das Selbstverständnis der Staatstheater hat sich heute sehr gewandelt.

Ja, glücklicherweise. Man hat dort viel mehr Raum für Experimente und Projekte, als das früher der Fall war. Das Staatstheater nimmt seinen Auftrag, die Gesellschaft in all ihrer Diversität widerzuspiegeln, heute auch ganz anders wahr. Ich sehe es als großes Privileg an, als Schauspieler in einem Land arbeiten zu dürfen, in dem man ein weltweit einzigartiges System aus subventionierten Stadt- und Staatstheaterbetrieben vorfindet. Denn die finanzielle Ausstattung der jeweiligen Häuser verschafft uns Künstlern eine große Freiheit. Am Staatstheater darf man auch einmal etwas wagen, ohne dass im Falle eines Misserfolgs einer Inszenierung gleich die Existenz der gesamten Produktionsstätte auf dem Spiel steht.

Gerade in den Zeiten der Corona-Lockdowns spürte man deutlich, wie ernst die Stadt- und Staatstheater ihren Auftrag nehmen, in dieser besonderen Lage mit ihrem Publikum in Kontakt zu bleiben. Ende März wurde dein Video im Namen der eindrucksvollen Videoreihe „Tagebuch eines geschlossenen Theaters“ des Residenztheaters veröffentlicht. Warum hast du dich für „Corona“, ein 1948 von Paul Celan verfasstes Gedicht, entschieden?

Natürlich war vor allem der Titel ausschlaggebend in Bezug auf meine Entscheidung für diesen Text. Beim Lesen hatte ich sofort eine Idee im Kopf, wie sich Paul Celans Worte auf einer filmischen Ebene transportieren lassen. Was ich besonders an „Corona“ mag, ist die Tatsache, dass das Gedicht viel Spielraum für eigene Interpretationen lässt. Denn es lenkt den Zuhörer nicht in vorgefertigte Bahnen.

In der letzten Zeile des Gedichts ist eine Ungeduld spürbar, die in die gegenwärtige Corona-Zeit zu passen scheint: „Es ist Zeit, dass es Zeit wird./ Es ist Zeit“.

Definitiv. Ich hoffe wirklich sehr, dass wir etwas aus den vergangenen Monaten gelernt haben und erkennen, dass es nicht mehr weitergehen kann, wie bisher.

Welche geänderten Verhaltensweisen beobachtest du schon jetzt an dir selbst und an deiner Umwelt?

Man setzt sich noch viel stärker mit sich selbst und mit den Menschen um sich herum auseinander. Ich würde mich nicht als panisch in Bezug auf das Virus bezeichnen – aber ich habe großen Respekt davor.

Es ist schon unglaublich, was auch über das Virus hinaus in den vergangenen vier Monaten auf der ganzen Welt passiert ist…

Wenn ich allein an George Floyd und die weltweite Anti-Rassismus-Bewegung denke, versuche ich mich immer in die Lage meiner Tochter hineinzuversetzen. Sie ist gerade 14 Jahre alt und wird plötzlich mit dieser völlig veränderten Welt um sie herum konfrontiert.

Wie war ihre erste Reaktion auf den Lockdown Ende März?

Sie hat tatsächlich fünf Wochen lang überhaupt keinen Fuß vor die Tür gesetzt – nicht einmal, um eine Runde Rad zu fahren oder spazieren zu gehen. Irgendwann meinte sie zu uns: „So eine Frechheit, mir wird meine Jugend gestohlen“.

Absolut nachvollziehbar, wenn ich mich selbst an meine Zeit als Teenager zurückerinnere. Schließlich hat man in dieser Phase seines Lebens anderes im Sinn, als Masken zu tragen und den gesamten Tag mit den Eltern in den eigenen vier Wänden zu verbringen.

Man kann dieser jungen Generation nur mit auf den Weg geben, dass sie versucht, in dieser Situation einen kühlen Kopf zu bewahren und trotz aller Herausforderungen positiv in die Zukunft zu blicken.

Für mich persönlich hatte diese Krise bei weitem nicht nur negative Aspekte: Einen derart intensiven Kontakt zu meinen Freunden hatte ich schon lange nicht mehr.

Ich habe auch täglich mit meinen Eltern telefoniert, wozu ich aufgrund von Probenverpflichtungen und Aufführungen am Abend normalerweise nicht komme. Es wäre zu wünschen, dass wir uns auch unter normalen Umständen die Zeit nehmen, für andere Menschen Sorge zu tragen und uns dabei selbst nicht allzu wichtig zu nehmen.

Wann hast du deine Ensemblekollegen im Residenztheater zum ersten Mal nach dem Beginn des Lockdowns wieder live gesehen?

Kurz bevor wir Anfang Juni mit unserem Theaterparcours Premiere feierte. Davor gab es zumindest die wöchentlichen Treffen am Freitagabend via Zoom und als einer von drei Ensemblesprechern habe ich glücklicherweise sowieso immer sehr viel Kontakt zu allen Schauspielern.

Die Quarantäne hat manch einen Künstler sehr beflügelt, wie man an deinem Beispiel sieht. Jede Woche war ein Teil deines Fortsetzungsromans ROMAN auf dem Instagram- Kanal zu sehen und zu hören.

Die Idee zu ROMAN hatte ich schon länger. Roman Bergner ist ein Anti-Held und das Gegenteil dessen, was man als Mann in seinem Alter eigentlich sein sollte. Er hat weder im Privatleben, noch in beruflicher Hinsicht Erfolg. Und er weiß nicht, wohin ihn seine persönliche Sinnsuche letztendlich führen soll.

Er ist damit nicht nur ein Anti-Held, sondern auch das absolute Gegenteil von dir…

Ja, aber es gibt durchaus auch Schnittmengen zwischen uns beiden: Zum Beispiel, wenn es in einer Folge um seine Griechenland-Aufenthalte geht.

„Eines ist sicher. Bergners Leben hat sich verändert. Eben hier. Im Theater. Mitten in der Vorstellung. Radikal“. Gab es bei dir auf der Bühne auch schon einmal einen vergleichbaren Bergner-Moment?

Ja, aber ganz anders als bei Bergner: 1998 stand ich in der „Biene Maja“-Inszenierung am Theater Basel neben einer jungen Kollegin, Katja Jung. Wir spielten damals verschiedene Rollen, sie war Kassandra und ich Thekla die Spinne, aber unter anderen auch zwei Hornissen und plötzlich war da diese ganz besondere Chemie zwischen uns. Der Rest ist Geschichte und heute sind wir 22 Jahre zusammen und haben 2 grossartige Kinder!

Man kann sich also tatsächlich auf der Bühne verlieben?

Definitiv! Bevor wir diese Inszenierung zusammen gemacht haben, waren Katja und ich uns eher nicht so sympathisch

 Da tut sich plötzlich ein ganz neues Geschäftsfeld auf: Speed-Dating auf der Bühne!

 Oder Speed-Playing (lacht)…

Hauptsache, man findet nachher den richtigen Partner. Roman Berger sagt übrigens im vierten Teil deiner Roman-Lesung diesen sehr interessanten Satz: „Er hat es nie geschafft, die Gesellschaft ganz zu verlassen und auf Gott und die Welt zu scheißen – obwohl dieser Gedanke sein einziger wirklicher Traum war. Bis heute“. Hattest du diese Fluchtgedanken in den vergangenen Monaten auch das ein oder andere Mal?

Nein, tatsächlich überhaupt nicht. Was ich im Moment gerade sehr gut finde, ist, dass wir alle trotz unserer unterschiedlichen Lebenswelten und Erfahrungen dieselbe Krise durchmachen. Wir sitzen alle im selben Boot, es gibt niemand auf der Welt, der nicht in irgendeiner Art und Weise von den Veränderungen, die diese Zeit mit sich bringt, betroffen wäre. Vielleicht ist diese Erkenntnis auch eine Chance, damit wir uns in Zukunft noch einmal auf einer ganz anderen Ebene neu begegnen können.

 

Lieber Thomas, ich danke dir für diese wunderbare erste analoge Begegnung nach dem Corona-Lockdown! Vielen Dank für dieses sehr interessante Gespräch und für die Unterstützung, die du dem Verein der Freunde des Residenztheaters zukommen lässt! Es war sehr schön, dich Anfang April auf Zoom zu unserem digitalen Wohnzimmergespräch der Resi-Freunde begrüßen zu dürfen – und ich habe mich außerordentlich darüber gefreut, dass du bei der diesjährigen Verleihung des Kurt-Meisel-Preises und der Förderpreise unseres Vereins zu Gast warst. Ich wünsche dir weiterhin alles Gute und viele tolle Rollen am Residenztheater in der kommenden Spielzeit!


Mehr Infos über Thomas Reisinger: 

https://www.residenztheater.de/ensemble/detail/reisinger-thomas

https://www.fuhrmannmanagement.com/herren/thomas_reisinger/

https://thomas-reisinger-schauspieler.jimdosite.com/

Instagram @reisinger_official

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