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#Interview mit Thomas Reif

 

© Andrej Grilc

Ein Gespräch mit Thomas über Astor Piazzolla, Tango als Kunstform und die Liebe des Cuarteto SolTango zum musikalischen Detail.

Es war mein letztes Konzert vor dem Kulturshutdown im November 2020: Ende Oktober reiste ich für einen Abend in den kleinen Ort Fellheim im Unterallgäu zu einem Abend mit dem Cuarteto SolTango. Seit einigen Jahren organisiert meine Freundin Veronika Heilmannseder in der Ehemaligen Synagoge Fellheim mit dem von ihr und einigen Mitstreiter*innen gegründeten Verein Cultura e.V. klassische Konzerte mit so renommierten Musiker*innen wie Elena Bashkirova oder dem Goldmund Quartett.

„Im Konzert wollen wir natürlich alles möglichst perfekt spielen. Aber es geht vor allem auch um die emotionale Vermittlung der Musik“, sagt der Geiger Thomas Reif vom Cuarteto SolTango, den ich nach dem Konzert des virtuosen Quartetts in Fellheim hinter den Kulissen treffe. Diverse Male erlebte ich Thomas in den vergangenen Jahren gemeinsam mit dem Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, dessen Konzertmeister Thomas Ende 2018 mit gerade einmal 26 Jahren wurde, auf der Bühne.

Über Freunde wurde der Pianist des Cuarteto SolTango, Martin Klett, 2017 auf Thomas Reif aufmerksam, der sich zu diesem Zeitpunkt in den letzten Zügen seines Masterstudiums befand. Klett und der Cellist Karel Bredenhorst gehörten 2008 zu den Gründungsmitgliedern des außergewöhnlichen Quartetts. Neben ihnen und Thomas Reif bereichert der Norweger Andreas Rokseth als einer der talentiertesten Bandoneonisten weltweit das Cuarteto SolTango seit einigen Jahren.

Der 1991 in Rosenheim geborene Thomas Reif erhielt seine Ausbildung am Mozarteum Salzburg, an der Hochschule für Musik und Theater Hamburg und an der Hochschule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin. Die Musiker*innen Midori, Igor Ozim, Ferenc Rados, Vadim Gluzman, Thomas Riebl, Eberhard Feltz und Christian Altenburger waren prägend für seine künstlerische Entwicklung.

Neben Preisen und Auszeichnungen bei Wettbewerben wie den Internationalen Mozart Wettbewerben in Salzburg und Augsburg, dem Internationalen Königin Elisabeth Wettbewerb in Brüssel und dem Johannes Brahms Wettbewerb in Pörtschach wurde Thomas Reif 2012 in Salzburg mit dem „Ian Stoutzker Prize in Memory of Yehudi Menuhin“ geehrt.

Das Cuarteto SolTango (v.l.n.r.): Karel Bredenhorst (hinten), Thomas Reif (vorne, sitzend), Martin Klett und Andreas Rokseth © Andrej Grilc

Als Konzertmeister war Thomas Reif unter anderem beim Münchener und Wiener Kammerorchester sowie beim Kurpfälzischen Kammerorchester Mannheim tätig. Seine solistischen Aktivitäten brachten ihn bisher unter anderem mit dem Orchestre Royal de Chambre de Wallonie, mit dem Belgian National Orchestra, dem Münchner Rundfunkorchester, dem Ensemble KNM Berlin und den Salzburg Chamber Soloists zusammen.

Als ich Thomas im April 2021 anlässlich unseres Interviews im Englischen Garten wieder traf, war ich beeindruckt von der Leidenschaft, mit der der klassisch ausgebildete Geiger über eine Musik sprach, die zu Unrecht oft als reine Tanz- und Unterhaltungsmusik angesehen wird. Für das Cuarteto SolTango ist der Tango eine Philosophie und eine Kunstform, die sie ihrem Publikum mit einer Mischung aus Leidenschaft und Ernsthaftigkeit präsentieren. Dadurch gelingt es ihnen, den Zuhörer*innen die ganze Bandbreite der Tangomusik der Goldenen Ära von den Ikonen Aníbal Troilo, Juan D’Arienzo, Lucio Demare bis hin zu den Wegbereitern des Tango Nuevo, Horacio Salgán und Osvaldo Pugliese, zu präsentieren.

Anlässlich der Veröffentlichung von Misión Tang0, der mittlerweile vierten CD der Musiker, kam ich mit Thomas ins Gespräch über seine Annäherung an den argentinischen Tango, Osvaldo Pugliese als Erneuerer dieser Musik und über die künstlerische Mission, auf die sich das Cuarteto SolTango auf seiner neuesten CD begeben hat.

Wie vertraut warst du mit dem argentinischen Tango, als du 2017 Teil des Cuarteto SolTango wurdest?

Mit dem argentinischen Tango direkt hatte ich keine Berührungspunkte: Aber als Teenager spielte ich sehr viel Salonmusik, weil ich es schon immer spannend und bereichernd fand, mich als klassischer Musiker auf ein ungewohntes klangliches Terrain zu begeben. Was den Tango betrifft, so kannte ich natürlich viele Stücke von Astor Piazzolla: Seine Musik hat aber wenig mit dem Tango der 1930er bis 1950er Jahre zu tun, auf den wir unseren Fokus als Quartett gelegt haben.

Wie hast du dich als klassischer Musiker dem argentinischen Tango der sogenannten „Goldenen Ära“ angenähert? 

Vor allem durch das Anhören der Originalaufnahmen. Es ist einfach fantastisch, dass es diese gibt – inklusive ihrer ganz eigenen Klangqualität (lacht). Mir war es vor allem wichtig, ein Gespür für die verschiedenen Tangomusik-Stile von damals zu bekommen und diese voneinander unterscheiden zu lernen. Uns als Quartett ist es sehr wichtig, dass wir diese Musik nicht einfach möglichst originalgetreu nachspielen, sondern sie zeitgemäß und mit unseren Mitteln neu interpretieren.

Welche technischen Herausforderungen gilt es als klassischer Geiger in Bezug auf die Tangomusik der Goldenen Ära zu bewältigen?  

Zunächst einmal muss man sich gedanklich vom „klassischen“ Lagenwechselspiel lösen und eine andere Art von Intensität in das eigene Spiel hineinlegen, die vielleicht im ersten Moment etwas dick aufgetragen wirkt. Technisch gesehen ist die Tangomusik aus dieser Zeit für einen Geiger überhaupt nicht leicht – besonders die Soli müssen sehr sorgfältig erarbeitet werden. Für unseren Pianisten Martin Klett, der die Stücke für das Quartett arrangiert, besteht die große Herausforderung darin, diese für unsere Besetzung aus Bandoneon, Geige, Cello und Klavier zu adaptieren – gerade wenn es Stellen in den Stücken gibt, die Original zum Beispiel für drei Bandoneon-Spieler geschrieben wurden.

Durch was zeichnet sich die argentinische Tangomusik der 1930er bis 1950er Jahre deiner Meinung nach aus?  

Durch ihre extreme Emotionalität. Das merkt man vor allem an den Stücken, denen ein Text zugrunde liegt. Musikalisch gesehen kommen sie oft sehr fröhlich und schwungvoll daher: Aber wer sich die Textpassagen genau anhört, der merkt, dass es darin oft um sehr düstere, traurige Themen geht. Diesen Kontrast finde ich spannend.

„Der Tango kommt aus den Slums, nicht vom Parkett. Wenn man das nicht mehr sieht oder spürt, dann ist er tot“, hat die argentinische Tangotänzerin Carmen Calderón einmal gesagt.

Da hat sie absolut Recht. Daher finde ich es sehr wichtig, dass die dunkle Seite dieser Musik neben all ihrer Rhythmik und ihrer scheinbaren Leichtigkeit immer ihren Platz auf der Konzertbühne findet.

Ist es hauptsächlich euer Pianist Martin Klett, der neue Stücke für euer Quartett entdeckt oder begebt ihr euch unabhängig voneinander immer wieder auf die Suche nach neuem Material?

Es gibt wirklich kaum einen Tango, den Martin nicht kennt – daher ist es hauptsächlich er, der neue Stücke für unser Quartett entdeckt. Der musikalische Fundus, aus dem man schöpfen kann, ist unendlich: Allein Osvaldo Pugliese hat angeblich viele hundert Tangos aufgenommen!

Gerade habt ihr mit „Misión Tango“ die neueste CD-Aufnahme des Cuarteto SolTango veröffentlicht. Inwiefern begebt ihr euch dort auf eine vollkommen neue musikalische Mission?

Nach unserem letzten Album, das im Stile einer Milonga – also einer Tanzveranstaltung des Tango Argentino – gestaltet war, haben wir unser neues Album in Form von drei Blöcken gestaltet, anhand derer wir die Entwicklung des Tango nachzeichnen wollten. Der Fokus unseres Albums liegt natürlich auf der Tangomusik der Goldenen Ära: Aber es gibt auch einige Ausnahmen wie „Chiru“ von Julián Peralta aus dem Jahr 2006 oder „Coqueta“ von Enrique Alessio und Carlos Lázzari aus dem Jahr 1928.

Wer euch wie ich schon einmal auf der Bühne erlebt durfte und diese Mischung aus Akribie und Leidenschaft live erlebt hat, der kann sich vorstellen, wie sehr ihr auch bei eurer CD-Aufnahme auf jedes Detail geachtet habt.

Oh ja, da waren selbst die Tonmeister erstaunt (lacht)! Man rechnet vielleicht nicht damit, dass man bei dieser Art von Musik genauso pingelig sein kann wie bei klassischer Musik. Doch nur so kann es meiner Meinung nach gelingen, die emotionale Stimmung, die in einem Konzertsaal herrscht, in ein Tonstudio zu übertragen.

Woran liegt es eigentlich, dass die argentinische Tangomusik der 1930er bis 1940er Jahre hierzulande so unbekannt ist?

Vor allem daran, dass es keine Noten für diese Musik gibt. Und nicht jeder ist so geschickt darin, die Musik für ein Quartett wie unseres zu arrangieren.

Auf „Misión Tango“ hört man unter anderem die Stücke „Camandulaje“ und „Una vez“ von Osvaldo Pugliese, dem größten Erneuerer des Tango Argentino. Pugliese war als bekennender Kommunist in Argentiniens berüchtigstem Gefängnis für politische Gefangene inhaftiert und gründete aus diesem heraus Ende der 1939er Jahre sein Orchester. Kannst du dich von seiner Art und Weise, den Tango zu interpretieren, vollkommen lösen, wenn du die Originalaufnahmen anhörst?

Das ist tatsächlich nicht immer so einfach. Manchmal kommt man in den Proben an den Punkt, wo man sich fragen muss, ob man Originalaufnahme als das Maß aller Dinge betrachtet oder einfach als Beschreibung dessen, wie diese Musik damals von ihren Interpreten empfunden haben.

© CAvi

Puglieses Orquesta Tipica galt in den 1940er Jahren als die „evolutionäre Synthese des besten argentinischen Tangos“. Mit Kompositionen wie „La Yumba“, „Malandraca“ oder „Negracha“ schuf er die klassische Avantgarde dieser Musik.

Der Sänger Leonel Capitano hat uns mal erzählt, dass er als Kind einen Musiker aus Osvaldo Puglieses Orchester kennengelernt hat. Er fragte ihn, wie es einem als Orchesterleiter gelingt, mit den Musikern bei all der Freiheit, die die Tangomusik vorgibt, trotzdem synchron zusammenzuspielen. Pugliese, der bei den Proben stets am Klavier saß, muss bei den Stellen, an denen es rhythmisch herausfordernd wurde, immer gesagt haben: „With me“ – und nach unzähligem Wiederholen klang das, was sie da gemeinsam spielten, tatsächlich harmonisch.

Haben Pugliese oder die Leiter der anderen Tangoorchester der Goldenen Ära eigentlich irgendwelche Vorgaben gemacht, wie ihre Stücke interpretiert werden sollen?

Jeder Orchesterleiter hat aus einem Tango eine eigene Version gemacht und diese dann auch vollständig durchkomponiert. Allzu viel improvisiert wurde dann meines Wissens nicht in den Konzerten. Aber hört man zum Beispiel „La Cumparsita“ von Troilo, Di Sarli oder D’Arienzo, so sind es komplett verschiedene Stücke, basierend auf dem gleichen Tango.

Gab es außer Pugliese einen weiteren Musiker, der für dich in deinen Cuarteto Soltango-Jahren eine absolute Entdeckung für dich war?

Eigentlich alle (lacht). Die Musik von Horacio Salgán finde ich zum Beispiel großartig. Er hat weit über die Goldene Ära hinaus als Komponist gearbeitet und viele seiner Kompositionen tragen Elemente des Jazz in sich. Es gibt zum Beispiel ein Album von ihm aus den 1980er Jahren, auf denen die Tangomusik in Kombination mit E-Gitarren- und Jazz-Gitarrensounds erklingt.

Empfindest du als einen Vorteil, dass ihr euch mit dem Cuarteto SolTango auf die Tangomusik der Goldenen Ära spezialisiert habt?

Spielerisch gesehen auf jeden Fall. In Bezug auf Festivals heißt es hingegen schon das ein oder andere Mal: „Tango haben wir schon im Programm“, wenn eine Gruppe eingeladen wurde, die sich zum Beispiel auf die Musik von Astor Piazzolla spezialisiert hat. Unsere Art und Weise, Tango zu interpretieren, hat auf jeden Fall nichts mit klassischer Unterhaltungsmusik zu tun, sondern mit konzertanter Musik, die nicht für den Tanzgebrauch komponiert wurde. Vielen Menschen ist es gar nicht bewusst, dass es zu Zeiten von Pugliese viele Tangokonzerte in großen Konzertsälen gab: Ohne Tänzer und oft auch ohne Sänger.

Ihr seid aber in den vergangenen Jahren auch wieder auch mit weltberühmte Showtanzpaaren wie Michelle & Joachim aus Basel, Gastón & Moira aus Buenos Aires oder Claudia & Mathias aus Berlin aufgetreten.

Und einmal im Jahr kann man uns auch bei ein bis zwei Tango-Festivals auf der Bühne erleben! Das ist ein geniales Erlebnis für uns, weil die Zuhörer*innen direkt auf unsere Musik reagieren. Toll sind auch Misch-Konzertformen wie die „HörBa(a)r“ 2018 in Donaueschingen. Dort haben wir unsere zwei Konzerthälften gespielt und in der Pause gab einen Tango-Crashkurs für das Publikum und bei unserer Zugaben-Sessions durfte dann jeder und jede im Raumen tanzen, der oder die wollte. Solche Auftritte sollen trotzdem eine Ausnahme bleiben, da unsere Arrangements so spannend sind, dass sie unserer Meinung nach für sich stehen können.

Wie sieht es denn mit deinen eigenen Tango-Tanzkenntnissen aus?

Ich spiele die Musik lieber (lacht). Karel und Martin sind hingegen sehr gute Tangotänzer und bewegen sich viel innerhalb der Tango-Tanzszene.

Welchen Wunsch hast du in Bezug auf die Wahrnehmung der Musik des Cuarteto SolTango in der Öffentlichkeit?

Am schönsten wäre es, wenn viele Zuhörer*innen mit der Zeit ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass es Tangomusik vor Astor Piazzolla gab und den Klang dieser Musik im Ohr haben.

Lieber Thomas: Ich freue mich sehr, dass wir uns anlässlich unseres Gesprächs über den argentinischen Tango der 1940er und 1950er Jahre wiedergesehen haben und ich danke dir für die spannenden Einblicke in ein bisher für mich unbekannte musikalische Welt! Alles Gute für dich und bis hoffentlich bald wieder in einem Konzertsaal!


Mehr Informationen über das Cuarteto SolTango und über Thomas Reif: 

https://soltango.com // Instagram @cuartetosoltango //Facebook @cuartetosoltango

http://www.thomasreif.net/ // Instagram @thomasreif_official //Facebook @thomasreifviolin

CD „Misión Tango“ des Cuarteto SolTango
Label: CAvi 2020
Bestellnummer: 10463940
Erscheinungstermin: 23.4.2021

Die Liedes des Albums könnt ihr euch auch auf Spotify anhören.

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