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#Interview mit dem Schauspieler Jonny Hoff

Jonny Hoff © Laura Westermann

Im November 2020 feierte der Schauspieler Jonny Hoff zusammen mit der Künstlergruppe punktlive in der vielbeachteten digitalen Theaterproduktion „werther.live“ Premiere. In den vergangenen Jahren war der Absolvent der Folkwang Universität der Künste unter anderem in den Inszenierungen „Die Verdammten“ und „Das Internat“ des Regisseurs Ersan Mondtag am Schauspiel Köln und am Theater Dortmund auf der Bühne zu erleben. Ein Zoom-Interview über digitales Theater, die Verwirklichung eigener künstlerischer Visionen, Sarah Kane und Selbstkritik.

Nur ein einziges Mal will Werther (Jonny Hoff) seine geliebte Lotte (Klara Wördemann) im echten Leben treffen. Denn er muss unbedingt herausfinden, ob seine in der Digitalität entwickelten Gefühle für sie die Basis für eine Beziehung sein könnten. Kennengelernt hat Werther Lotte über Ebay-Kleinanzeigen, wo er ihr ein Waffenbuch abkaufte – das benötigt er für die kunstvollen Collagen, die er auf seinem Instagram-Profil postet. Seit seinem ersten Gespräch mit Lotte auf Zoom ist es um Werther geschehen – dass seine Angebetete seit Jahren vergeben ist, blendet er zumindest eine Zeit lang gekonnt aus.

Einerseits ist Jonny Hoffs Werther in Cosmea Spellekens Inszenierung „werther.live“ einer der bezauberndsten Romantiker, die mir seit Jahren auf einer Theaterbühne begegnet sind. Keine Sekunde zweifle ich an Werthers Gefühlen für Lotte – denn Jonny verleiht seiner Figur durch sein ehrliches, aufrichtiges Spiel eine große Tiefe und Authentizität. Andererseits zeigt die Regisseurin Cosmea Spelleken in ihrer Interpretation von Johann Wolfgang von Goethes berühmten Briefroman „Die Leiden des jungen Werthers“ aus dem Jahr 1774 auch, wie schmal der Grat zwischen (Selbst-)liebe, Obsession und Ignoranz bei einem hochemotionalen Mann wie Werther sein kann. Dass er die Instagram-Profile von Lotte und ihrem Freund Albert wie ein Getriebener nach Informationen über das Wesen ihrer Beziehung durchforstet, ist das eine: Sein wahres Gesicht zeigt dieser strahlende junge Charmeur aber vor allem dann, wenn er sich im WhatsApp-Chat immer wieder der Aussprache mit einer seiner letzten Affären entzieht. Jede Konversation mit der von ihm gekränkten Dame leitet er direkt an seinen besten Freund Willi (Florian Gerteis) weiter – der genießt gerade sein lockeres Leben in Frankreich und hält von festen Beziehungen sowie herzlich wenig.

Es berührt einen als Zuschauer*in sehr, wenn am Ende der „werther.live“-Inszenierung nur noch eine Pistole auf Werthers WhatsApp-Profilfoto zu sehen ist, aus der explodierende Blumen schießen. Hätte Lotte das perfekte Bild, das sich Werther von ihr in der digitalen Welt gemacht hat, überhaupt erfüllen können? Und war er am Ende zu sehr in seine eigene Vorstellung von der großen Liebe verliebt, als dass er sich tatsächlich auf einen Menschen aus Fleisch und Blut hätte einlassen können? Spannende Fragen, mit denen einen das Kollektiv punktlive Ende Mai aus diesem einzigartigen digitalen Theaterabend entlässt.

© punktlive

Seit dem vergangenen Jahr sucht Jonny Hoff gemeinsam mit den Mitgliedern der neu gegründeten freien Künstlergruppe nach theatralen Darstellungsformen abseits des analogen Bühnenraums. Indem die Gruppe digitale Bild- und Erzählwelten mit theatraler Sprech- und Spielkunst verwebt, entsteht eine neue Form des Geschichtenerzählens, die sich für die Zuschauer so unmittelbar anfühlt, wie ein realer Theaterbesuch. „Werther.live“ wurde als erste Inszenierung der Künstlergruppe gleich zu einem großen Erfolg: Ausgezeichnet mit dem Deutschen Multimedia-Preis 2020, schaffte es die Inszenierung beim Nachtkritik-Theatertreffen 2021 unter die 10 besten Stücke des Jahres 2020. Darüber hinaus war sie nominiert für das Theatertreffen der Berliner Festspiele und wurde unter anderem im Rahmen des 38. Heidelberger Stückemarkts gezeigt.

Wer wie ich die Gelegenheit hat, mit Jonny Hoff ins Gespräch zu kommen, der spürt schnell, wie sehr dem Schauspieler auch jenseits seiner Arbeit mit punktlive an der Überwindung von Grenzen im klassischen Theaterbetrieb gelegen ist. Jonny ist ein Forschender, ein auf konstruktiven künstlerischen Austausch bedachter Teamplayer, der in seinem noch kurzen Berufsleben neben „werther.live“ auch an anderen Theaterprojekten beteiligt war, die für Furore sorgten. 2018 sah man ihn beispielsweise in Ersan Mondtags Inszenierung Das Internat, die zum 56. Berliner Theatertreffen eingeladen wurde.

Aufgewachsen in Magdeburg und in Hannover, interessierte sich der 28-jährige Jonny Hoff zunächst stark für Tanz. Er wurde in Hip Hop, Ballet und New Style ausgebildet und arbeitete auch selbst als Tanzlehrer. Mit 17 Jahren entdeckte er seine Leidenschaft fürs Theater. Nach den ersten Produktionen am Jungen Schauspiel Hannover führte ihn sein Weg nach Wien, wo er fast vier Jahre fester Bestandteil der Jungen Burg und des Burgtheaters war und nebenbei ein Studium der Kunstgeschichte aufnahm. Von 2016- 2020 absolvierte Jonny seine Schauspielausbildung an der Folkwang Universität der Künste und wirkte währenddessen in Inszenierungen am Schauspielhaus Bochum, am Schauspiel Köln und am Theater Dortmund mit.

Ich begegnete Jonny Hoff zum ersten Mal nach einer Vorstellung von „werther.live“ im Rahmen des deutsch-französischen Festivals PERSPECTIVES Ende Mai 2021 auf Instagram. Vor einigen Wochen unterhielt ich mich über Zoom mit Jonny über sein Selbstverständnis als Schauspieler, digitale Theaterformate und die Zusammenarbeit mit den von ihm sehr geschätzten Regisseur*innen Cosmea Spelleken und Ersan Mondtag.

„Was ich von der Geschichte des armen Werther nur habe auffinden können, habe ich mit Fleiß gesammelt, und lege es euch hier vor, und weiß, daß ihr mir’s danken werdet. Ihr könnt seinem Geist und seinem Charakter eure Bewunderung und Liebe und seinem Schicksale eure Tränen nicht versagen“, heißt es im Prolog zu Johann Wolfgang von Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“. Ist er in deinen Augen ein hilfloser Melancholiker, der mit sich selbst und mit der Welt überfordert ist? 

Ich glaube ganz im Gegenteil dazu, dass Werther in jeder Sekunde ganz genau weiß, was er will. Rein gar nichts geschieht in seinem Leben einfach so.

Dein Werther hat in „werther.live“ durchaus einige unsympathische Züge an sich: Seine romantischen Gefühle für Lotte wirken jedoch nie übertrieben oder gespielt. Gerade bei jungen Theaterschauspielerinnen und -schauspielern fällt mir immer wieder auf, wie sehr die Zurschaustellung ihrer körperlichen Kraft ihr Spiel auf der Bühne dominiert – und wie schwer es ihnen in vielen Inszenierungen bei all der Überhöhung und sarkastischen Überzeichnung der Realität gemacht wird, Momente von großer emotionaler Ehrlichkeit zu erzeugen.  

Ich verdanke es meiner Studiengangsleiterin Esther Hausmann und meinem wichtigsten Rollenlehrer während des Studiums, Frank Wickermann, dass ich mich mittlerweile auf der Bühne komplett emotional öffnen kann. Esther und Frank, der im vergangenen Jahr leider verstorben ist, haben mir immer wieder klar gemacht, dass Schauspiel 100%ige persönliche Investition bedeutet und dass das Publikum spürt, wenn ich die Emotionen meiner Figur nicht wirklich durchlebe und an mich herankommen lasse. Vorspielen geht deutlich leichter, als wirklich empfinden.

Wie wichtig ist es dir, bei der Erarbeitung einer neuen Rolle eine größtmögliche Distanz zu dir als Privatperson aufzubauen?

Das kommt ganz auf das Projekt an. Ich kann natürlich nicht verhindern, dass in jeder meiner Rollen auch ein bisschen Jonny steckt. Das ist vollkommen OK so und in „werther.live“ habe ich die Verbindung zu mir selbst an bestimmten Stellen auch explizit gesucht. 

Inwiefern? 

Tatsächlich flossen manche Erfahrungen aus einer sehr intensiven Liebesgeschichte, die ich im vergangenen Jahr erleben durfte, in „werther.live“ ein. Es gibt Texte im Laufe der Inszenierung, die ich privat als Jonny geschrieben habe, um meine Gedanken zu ordnen – über Dinge, die mich damals beschäftigten oder Gefühle, die mich begleitet haben. Um welche Passagen es sich dabei in unserer Inszenierung konkret handelt, verrate ich an dieser Stelle aber nicht (lacht). 

Ich finde es immer wieder bewundernswert, wie es vielen Schauspieler*innen gelingt, in fast jeder Lebenslage einen Zugang zu den Empfindungen ihrer jeweiligen Rolle zu finden – gerade wenn diese sehr konträr zu den Gefühlen sind, die sich im tiefsten Inneren ihrer Seele abspielen. 

Mir ist es bis jetzt zum Glück auch in den Produktionen, in denen ich eher weniger gerne gespielt habe, gelungen, eine Form von Zugang zu finden, die mich die ganze emotionale Bandbreite meiner Figuren auf der Bühne erleben hat lassen. 

Was motiviert einen in diesen Fällen, sich als Schauspieler trotz der eigenen Skepsis gegenüber der jeweiligen Inszenierungsweise gerne auf die Bühne zu begeben? 

Auf jeden Fall der Austausch mit dem Publikum. Auch ein gemeinsames Scheitern an einem Text oder an einer Inszenierung kann manchmal etwas haben. Oder ein interessantes Kostüm oder ein Bühnenbild kann ausschlaggebend dafür sein, dass man eine Figur gerne spielt (lacht).  

Du bist wie ich ein großer Fan der Werke der britischen Theaterautorin Sarah Kane, die sich 1999 das Leben nahm. Das Thema Liebe spielt in ihren Stücken trotz der allgegenwärtigen Gewalt und der grausamen Handlungen ihrer Figuren eine entscheidende Rolle. 

Oh ja, wenn nicht sogar die Wichtigste! Ich schreibe tatsächlich gerade an meinem ersten Theaterstück, in dem ich versuche, die großen Themen aller fünf Dramen von Sarah Kane in einem einzigen Text vereinen. 

Was interessiert dich besonders an ihren Dramen, die von ihrer Form her alle sehr unterschiedlich gestaltet sind?

Neben der romantischen Hoffnung auf Liebe, die hinter all der offen ausgelebten und zur Schau gestellten Gewalt steht, finde ich die psychischen und physischen Extremzustände, mit denen Sarah Kane die Protagonist*innen ihrer Stücke konfrontiert, sehr spannend. Sie war überzeugt davon, dass weder die Figuren, noch die Zuschauer*innen Katharsis verdient haben, wenn sie nicht dazu bereit sind, diese Extremzustände physisch und psychisch im Theater zu durchleben. 

Auf welche Art und Weise wirst du versuchen, diese starke Verbindung zwischen dem Publikum und den Akteuren auf der Bühne in deinem Stück herzustellen? 

Indem ich es als hybriden Theaterabend anlege, bei dem die Zuschauer*innen zugleich eine Seherfahrung auf der Bühne haben und die Entwicklung der Figuren über ihr Smartphone mitverfolgen können. Es wird in meinem Stück um einen Mann und eine Frau gehen, die in gegenüberliegenden Wohnungen leben und sich bisher nur in der digitalen Welt begegnet sind. Mein Drama ist auf die klassischen fünf Akte angelegt, die ich den fünf Sinneswahrnehmungen des Menschen widme. Beim letzten Sinn – dem Tastsinn – kommen die beiden Protagonisten an eine Grenze in Bezug auf die gemeinsamen Erfahrungen, die sie sich zuvor im digitalen Raum miteinander erarbeitet haben. Entweder wagen sie es, die Grenze der Digitalität zu sprengen – oder sie bleiben auf ewig in ihrer Art von Realität verhaftet. 

Wir haben uns im vergangenen Jahr an eine neue digitale Wirklichkeit gewöhnt, wie wir sie zuvor nie für möglich gehalten hätten. Wenn ich allein an die intensiven Gespräche denke, die ich während der beiden Lockdowns in den sozialen Netzwerken führen durfte.Völlig fremde Menschen vertrauten mir plötzlich Dinge an, über die sie bei einer analogen ersten Begegnung nie sprechen würden. 

Und genau davon müssen wir im Theater erzählen! Stattdessen blenden wir diesen Teil unserer Lebensrealität allzu gerne auf der Bühne aus. Dabei wäre es doch viel spannender, unser Vokabular an digitalen Sehgewohnheiten zu erweitern. Warum also gibt es im Bereich des digitalen Theaters immer noch viel zu wenig kreative Denkansätze und Ideen?  

Ich glaube, man muss den Stadt- und Staatstheatern noch ein wenig mehr Zeit geben, digitales Theater als gleichberechtigten Teil ihrer künstlerischen Arbeit anzusehen – schließlich war es im März 2020 keine freiwillige Entscheidung, vorerst komplett auf die verschiedenen digitalen Bühnen auszuweichen. Letztendlich ging es den meisten Theatermachern immer nur darum, so schnell wie möglich wieder für analoge Schauspieler-Zuschauer-Begegnungen zu sorgen.  

Versteh mich nicht falsch: Analoges Theater ist der Grund, warum ich Schauspieler geworden bin – und ich freue mich sehr darauf, ab Juli wieder auf einer Bühne proben und spielen zu dürfen. Und trotzdem bin ich der festen Überzeugung, dass wir die Anstrengungen, die wir im digitalen Bereich gemacht haben, unbedingt vertiefen sollten. Wenn ich in den Nachgesprächen zu „werther.live“ Dinge höre wie: „Endlich macht jemand Theater für meine Generation und nicht für die Generation meiner Eltern“, dann sollten an dieser Stelle alle Alarmglocken schrillen. Wir müssen es schaffen, das Leben der jungen Generation auf der Bühne abzubilden – sonst haben wir die jungen Leute ein für alle Mal für die Kunstform Theater verloren. Und vielleicht begeistern wir mit dieser Art von Theater auch die Angehörigen älterer Generationen, die irgendwann für sich damit abgeschlossen haben, weil sich der Umgang mit der stilisierten theatralen Hochsprache auf der Bühne fremd für sie anfühlt. 

Ich habe den Eindruck, dass man einige Jahrhunderte zuvor zu Shakespeares Zeiten wesentlich experimentierfreudiger war in Bezug auf das Aufbrechen von Grenzen zwischen dem Bühnengeschehen und dem Theaterpublikum. Im 18. und 19. Jahrhundert vollzog sich dann eine Wandlung in der Wahrnehmung des Theaterbesuchs als konzentriertem, kontemplativem Kunstgenuss. Kehrt man mit den digitalen Theaterformaten also wieder etwas mehr zurück in Shakespeares Zeiten? 

Digitales Theater erzeugt eine unglaubliche Nähe, die man so im Theater nur schwer herstellen kann – somit machen wir von punktlive vielleicht tatsächlich Theater im Shakespeareschen Sinne. Ich würde mir wünschen, dass man die digitalen Theaterformate als Erweiterung des bisher Dagewesenen ansieht und sie nicht gegen ein analoges Theatererlebnis ausspielt. Schließlich baut jeder Regisseur oder jede Regisseurin oft analoge Bezüge in seine oder ihre digitalen Theateraufführungen ein. Cosmea Spelleken hat sich zum Beispiel in „werther.live“ dazu entschieden, in den Zwischenpassagen unserer Inszenierung Originaltexte aus Goethes „Die Leiden des jungen Werthers“ erklingen zu lassen, während die Zuschauer auf zwei Hände blicken, die einen Text in eine Schreibmaschine tippen. Und mein Werther schneidet die Einzelteile seiner Collagen zunächst mit der Schere aus und klebt sie auf Papier auf, bevor er sie anschließend einscannt und auf Instagram postet. Generell stellt man als Zuschauer*in in „werther.live“ fest, dass die Figuren sehr analog reagieren, wenn eine Situation sie besonders mitnimmt: In den emotionalsten Momenten sieht man Werther beispielsweise telefonieren, anstatt dass er sich auf Zoom begibt oder sich seine Zeit auf Instagram vertreibt.

Wie hast du die Zusammenarbeit mit der sehr talentierten Regisseurin Cosmea Spelleken, die seit dem vergangenen September an der Filmakademie Wien studiert, empfunden?

Ich liebe es, mit ihr zu arbeiten, weil wir auf künstlerischer Ebene sehr ähnlich ticken und weil wir uns darüber hinaus auch privat einiges zu sagen haben. Wenn man wie wir über ein halbes Jahr jede Woche ein- bis zweimal ein Stück probt, dann hat das eine ganz eigene Intensität. Ich glaube, mittlerweile vergeht nicht eine Woche, in der wir nicht mindestens einmal telefonieren und über Projekte sprechen, die wir uns gerade ausdenken oder an denen wir arbeiten. Cosmea hat einen sehr hohen Anspruch an das, was sie künstlerisch erschafft – und zudem auch eine sehr präzise Vorstellung davon, wie ihre Ideen umgesetzt werden sollen. Trotzdem ist sie nie einem Vorschlag oder einem mitdenken und mitgestaltenden Schauspieler*in gegenüber abgeneigt. Zwischen uns herrscht mittlerweile ein fast blindes Vertrauen in die Fähigkeiten des jeweils Anderen und das ist Gold für jede künstlerische Zusammenarbeit.

Wie kann ich mir den Entstehungsprozess der „werther.live“-Inszenierung über Zoom genau vorstellen? 

Von Mai bis Anfang November wurde mit Ausnahme einer kleinen Sommerpause ein oder zwei Mal die Woche für 1,5-2 Stunden virtuell geprobt. Proben hieß in diesem Fall sehr viel improvisieren: Zu Beginn jeder neuen Woche gab es von Cosmea immer ein inhaltliches Gerüst zu den einzelnen Szenen – inklusive dem Verweis auf den jeweiligen Brief aus dem Originalroman von Johann Wolfgang von Goethe. Als Schauspieler war es mir also immer möglich, bei unseren Improvisationen inhaltlich aus dem Vollen zu schöpfen, da ich die emotionalen Beweggründe der Figuren aus dem Originaltext kannte. Gegen Ende unserer Probenzeit hat sich Cosmea aus unseren vielen Improvisationen einen Text als eine Art Spielfassung entwickelt. Dieser dient uns heute als roter Faden für unsere Inszenierung, weil in ihm unter anderem festlegt ist, mit welchen Applikationen unsere Figuren in welcher Szene miteinander interagieren. Der tatsächlich von uns Schauspieler*innen gesprochene Text ist aber bei jeder „werther.live“-Vorstellung ein bisschen anders.

Hast du dich eigentlich von Beginn an wohl gefühlt damit, sich ein Stück rein auf digitalem Wege zu erarbeiten? 

Ehrlich gesagt war ich nach der zweiten Probe dem Nervenzusammenbruch nahe, weil ich vollkommen überfordert war mit diesem ganzen Browserballett, den ständigen Umbauten und den Zeitsprüngen, die man als Spieler in „werther.live“ immer mitdenken und -spielen muss (lacht). Parallel dazu probte ich übrigens „Die Walküre“ am Schauspiel Köln und empfand es trotz des großen Stresses als Riesengeschenk, parallel am Entstehungsprozess einer digitalen und einer analogen Produktion beteiligt zu sein.  

© punktlive

Was muss man deiner Meinung nach als Spielerin oder Spieler mitbringen, um auf der digitalen Bühne bestehen zu können? 

Digitales Arbeiten erfordert von einem Schauspieler oder Schauspielerin ein Höchstmaß an Disziplin – allein schon, weil man nicht 8 Stunden konzentriert vor Zoom sitzen kann. Man muss also sehr gut vorbereitet in eine Probe gehen und diese anschließend sehr gut nachbereiten – ansonsten ist man verloren. Und es ist wichtig, sich in alle Richtungen hin eine große Offenheit während des Produktionsprozesses zu bewahren. Ich habe vor dem Computerbildschirm eine andere Art von Körpersprache und es gibt dort nicht die Möglichkeiten, wie auf einer Bühne zu agieren. Ich habe mit der Zeit festgestellt, dass die Computer-Maus zu deinem besten Freund werden kann! Denn vor der Arbeit an „werther.live“ war mir nicht bewusst, dass man auch mit einer Mausbewegung wunderbar emotionale Spielvorgänge erzählen kann. Wichtig finde ich, dass man bei einer digitalen Theaterinszenierung gegenüber den Zuschauern nicht so tut, als würde man das reale Leben abbilden. Das Publikum darf ruhig merken, dass das, was sie dort sehen, gespielt ist.

Wie digital warst du eigentlich vor „werther.live“ privat unterwegs? Dein erstes Bild auf Instagram hast du erst im August 2020 gepostet. 

Ich habe mir die App tatsächlich erst heruntergeladen, als die Proben für „werther.live“ bereits mehrere Monate liefen. Mein Instagram-Account ist für mich so etwas wie mein Lebenslauf in Bildern: Ich sehe mir meine Fotos immer wieder gerne an, weil mit ihnen viele Erinnerungen verbunden sind. 

Mir geht es ähnlich, wenn ich meinen Feed durchsehe. Instagram ist und bleibt für mich eine große Selbstdarstellungsplattform – aber ich finde es gar nicht verwerflich, dort ein bestimmtes Bild von sich selbst zu kreieren. Schließlich tut man das im Umgang mit anderen Menschen im analogen Leben auch. 

Das Wort „Selbstdarstellung“ hat vor allem in unserer Branche oft einen seltsamen Beigeschmack. Ich finde es gerade als Künstler oder als Künstlerin vollkommen ok, sich in den sozialen Netzwerken nach seiner Fasson zu präsentieren – auch wenn mir eine gewisse Ehrlichkeit bei all dem Entertainment sehr wichtig ist (lacht)!

Das sehe ich ganz genauso: Schließlich ist die Selbstdarstellung ein sehr wichtiger Teil eures Berufs. 

Ich habe es in der Hand: Entweder wirkt alles, was ich in den sozialen Netzwerken poste, künstlich oder gestellt oder ich versuche die Plattformen so nah wie möglich an mich heranzuholen. Wenn ich zum Beispiel einen Post zu einem politischen Thema machen möchte, dann tue ich das – auch wenn es mich eventuell 15 Follower*innen kostet. Da ich es wichtig finde, in den sozialen Netzwerken nicht einfach nur die eigene Meinung zu vertreten, sondern miteinander ins Gespräch zu kommen, poste ich mittlerweile fast immer auch eine Story mit einem entsprechenden Gesprächsangebot. 

Ich habe lange gebraucht, bis ich es gewagt habe, mich zu kontroversen Themen in meinen Insta-Stories zu äußern.Und bis heute achte ich sehr stark darauf, meine Follower*innen nicht zu belehren oder gar umzuerziehen. 

So sehr ich es nachvollziehen kann, dass viele Aktivist*innen in den sozialen Netzwerken mit dem Finger auf bestimmte Menschen oder Gruppen zeigen: Diese Mentalität bringt uns gesamtgesellschaftlich gesehen keinen Schritt weiter. Wir müssen miteinander in den Dialog treten – so schwer uns das manchmal auch fallen mag. Auch ich selbst muss mir da immer wieder auf die Finger klopfen: Eine Meinung kann jeder haben – sich differenziert mit anderen Menschen auszutauschen, gelingt den Wenigsten. 

Den Aktivist*innen bringt ihr gesellschaftliches Engagement nicht nur viele Follower*innen, sondern auch gutes Geld ein. 

Und das ist absolut nicht verwerflich! Da verhält es sich nämlich wie in der Kunst- und Kulturbranche, wo man der Öffentlichkeit auch immer vorspielen soll, dass die eigene Leidenschaft für die Kultur über allem steht. Nein, denn von irgendetwas muss man schließlich leben! Und das Engagement für eine gerechtere, soziale Gesellschaft sollte meiner Meinung nach unbedingt etwas wert sein. Denn gerade Aktivist*innen wählen oft sehr unkonventionelle, spannende Wege, mit denen sie politische Bildungsarbeit leisten.   

Definitiv! Für junge Schauspielerinnen und Schauspieler ist es gerade in den ersten Berufsjahren gar nicht so einfach, sich einen bestimmten Marktwert zu erarbeiten. Denn es geht nicht nur darum, wie selbstbewusst ihr euch auf der Bühne oder vor der Kamera präsentiert, sondern auch darum, diejenigen Menschen zu finden, die euch fördern. Wie kam es dazu, dass der Regisseur Ersan Mondtag beschloss, dich auf Twitter ins Rennen um den Titel „Schauspieler des Jahres“ der Zeitschrift „Theater heute“ zu bringen? 

Ach Ersan: Ich knutsch’ ihn aus vollstem Herzen! Er war einfach cool genug, die Neuigkeit zu veröffentlichen (lacht)! NEIN! Ich war über diesen Post sehr überrascht und hab null damit gerechnet! Allerdings wusste ich meine Chancen bei sechs Likes und einem Repost damals sehr realistisch einzuschätzen… 

Du warst bereits in zwei Inszenierungen von ihm zu sehen: 2018 in „Das Internat“ am Theater Dortmund und 2019 in „Die Verdammten“ am Schauspiel Köln. Was macht die Zusammenarbeit mit diesem sehr gefragten Regisseur für dich aus? 

Er nahm mich von der ersten Sekunde an so ernst wie meine Kolleg*innen, die teilweise schon viele Jahre in ihrem Beruf arbeiten. Ersan ist ein ganzer Kosmos aus Ideen und Einfällen, die er seinen Schauspieler*innen an die Hand gibt, um damit etwas Eigenes auf der Bühne zu schaffen. Und er ist ein absoluter Bilderregisseur: Wenn man über diese Bilderwucht hinaus auch noch intelligente Schauspieler wie zum Beispiel Benny Claessens in der Inszenierung von Elfriede Jelineks „Wut“ auf der Bühne sieht, die Jelinkes Texte wirklich verstehen, dann entsteht daraus eine Art von Theater, das mich sehr berührt. Ersan besitzt wie Cosmea Spelleken die Fähigkeit, seinen Spieler*innen und ihren Fähigkeiten auf der Bühne komplett zu vertrauen. Er erwartet von dir, dass du dir selbst deine Figur zu eigen machst und den Inhalt des Stückes für dich selbst so begreifst, dass du damit seine großartigen Bühnenuniversen füllen kannst. Das ist eine Herausforderung, aber auch das Schöne an der Arbeit mit Ersan!

Mit der Inszenierung „Das Internat“ wart ihr 2019 zum Berliner Theatertreffen eingeladen. 

Ich konnte die Entscheidung der Theatertreffen-Jury für Ersans Höllenvision einer ihre Fehler ständig wiederholenden Menschheit sehr gut nachvollziehen. Arbeitstechnisch betrachtet aber war „Das Internat“ keine einfache Produktion. Ich bin sehr froh, dass damals ein offener und ehrlicher Austausch mit Ersan über das möglich war, was in der Produktion am Theater Dortmund eindeutig schief gelaufen ist – und dass die Proben am Schauspiel Köln ganz anders abliefen. Ich finde es generell sehr wichtig, Menschen eine zweite Chance zu geben, wenn sie es wirklich ehrlich mit einem und mit sich selbst meinen.  

Hast du eigentlich selbst gar keine Regieambitionen bei all den Gedanken, die du dir über das Theater und seine Strukturen machst?

Ich wollte tatsächlich Regie studieren, bevor ich mit dem Schauspielstudium begann. Aber ich merkte damals, dass ich mich selbst erst einmal in die Position des Lernenden und Spielenden begeben muss, bevor ich die andere Seite einnehmen und Leuten etwas beibringen und künstlerisch darüber in den Austausch darüber gehen kann. Ich liebe es aber momentan, zu unterrichten – das habe ich in meiner aktiven Zeit als Tänzer sehr gerne getan. 

Lieber Jonny: Es gibt Begegnungen in der digitalen Welt, die sich von der ersten Sekunde an sehr real anfühlen – weil man das Gefühl hat, einer Person gegenüberzusitzen, die sich für die gleichen künstlerischen Fragestellungen interessiert, wie man selbst. Ich danke dir für dieses sehr interessante Interview und für den lustigen Nachmittag auf Zoom! Bis bald hoffentlich im echten Leben. 


Mehr Informationen über Jonny Hoff: 

https://marmulla-rudolph.de/schauspieler/jonny-hoff/

https://www.schauspielervideos.de/fullprofile/schauspieler-jonny-hoff.html

https://punktlive.de/

Instagram @jonnyhoffrakete

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