
In seinen Kompositionen sucht er nach dem, was verschiedene Kulturen und Religionen miteinander verbindet: 2013 gründete Maximilian Guth das Asambura-Ensemble, mit dem er seither unser traditionelles Verständnis von klassischer Musik erweitert. In seinen Kompositionen lässt Maximilian nicht nur musikalische Einflüsse aus anderen Ländern einfließen, sondern unterschiedliche Musikstile ganz bewusst miteinander in Dialog treten.
Ein Gespräch über den Unterschied zwischen interkulturellen und interreligiösen Projekten, den Begriff „Heimat“ und über Maximilians Reisen nach Tansania.
Ein Gedicht von Mehdi Akhavan-Sales
Ich kann zu meiner Reisen
Nicht wählen mit der Zeit:
Muss selbst den Weg mir weisen
In dieser Dunkelheit.
Es zieht ein Mondenschatten
Als mein Gefährte mit,
Und auf den weissen Matten
Such’ ich des Wildes Tritt.
Aus dem Lied „Gute Nacht“ aus Franz Schuberts Winterreise op. 89, D 911 (1827)
Wie fühlt er sich an – dieser existenzielle Schmerz, die eigene Heimat hinter sich zu lassen und sich auf den Weg in eine unbekannte Zukunft zu begeben? Ein Jahrhundert nach dem Erscheinen des weltberühmten Liedzyklus Winterreise von Franz Schubert wurde der iranische Dichter Mehdi Akhavan-Sales 1928 in der Stadt Maschhad geboren. Der Pionier der freien Versdichtung in persischer Sprache verband in seiner Lyrik Elemente klassischer persischer Dichtung mit der modernen persischen Lyrik nach dem Vorbild Nimā Juschidschs. Er befreite das persische Gedicht von allen metrisch-formalen Fesseln der klassischen Diwan-Dichtung und richtete den Blick stattdessen auf Alltagsszenen im Iran.
In seinem 1827 veröffentlichten Liedzyklus hatte Franz Schubert zwölf Gedichte aus dem Urania – Taschenbuch auf das Jahr 1823 des Dichters Wilhelm Müller vertont, die dort als Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die Winterreise veröffentlicht worden waren. „Fremd bin ich eingezogen“: So lauten die erste Zeile aus Schuberts Winterreise und der Titel der ersten CD eines außergewöhnlichen interkulturellen Ensembles, das 2013 von dem Komponisten Maximilian Guth gegründet wurde. Das Asambura-Ensemble, dessen Name ein Wortspiel aus den Buchstaben des Usambara-Gebirges im Nordosten Tansanias ist, öffnet in vielerlei Hinsicht die Herzen und die Ohren der Zuhörer*innen. Nicht nur in Sachen Aufführungspraxis geht das 55-köpfige Ensemble, in dem Musiker*innen aus verschiedenen Kulturräumen gemeinsam an neuen Projekten arbeiten, immer wieder neue Wege. In Bezug auf seine Kompositionen leistet Maximilian Guth Pionierarbeit, wenn es um die Suche nach der verbindenden Kraft zwischen bekannten Werken der europäischen Klassik und der traditionellen Musikkultur anderer Nationen geht.
„Wenn man dem echten Genius der Musik treu bleibt, so hat auch die neueste Tonkunst mit allen ihren raffinierten instrumentalen Vorzügen keinen anderen Sinn als die Flöte Tubalkins, des ersten Bläsers, als der Dudelsack des ersten Sinesen, als der Jodel des Älplers, als der Psalm des Mönchs, das Deckelschlagen und Bambusschwingen der Neger, als Cäcilias Orgelchen, Paganinis Geige, Mozarts Oper und Hugo Wolfs Lied: Nämlich die Aufgabe, in einer andere Sprache als der wörtlichen oder der malenden oder der architektonischen, in der Sprache der Töne von Seele zu Seele zu reden“, sagte Franz Liszt einst. Ganz im Sinne des weltberühmten Komponisten begreift Maximilian Guth als Leiter des Asambura-Ensembles Musik vor allem als Chance, mit dem jeweiligen Gegenüber in einen Dialog zu treten – ungeachtet seiner Hautfarbe, Religion oder seinem soziokulturellem Background.
Maximilians Kompositionen entstehen meist im Austausch mit Musiker*innen, die ihm durch ihre Expertise und Erfahrungen die Tür in unbekannte Klangwelten öffnen: Gemeinsam mit Ehsan Ebrahimi, Justus Czaske und Abdulrahim Aljouja beispielsweise interpretierte Maximilian Guth in dem interreligiösen Zyklus MISSA MELASUREJ Palestrinas Missa Papae Marcelli neu, indem die Musiker religiös-kulturelle Musiktraditionen aus dem Judentum, dem Islam und dem Christentum in ihrer Neuinterpretation des Werkes mit einfließen ließen.
2016 suchte Maximilian in seinem interkulturellen Oratorium MessiaSASAmbura nach den verbindenden Elementen zwischen dem „Messiah“ von Georg Friedrich Händel und den vielfältigen Musiktraditionen Tansanias.
Der Klang der Querflöten und des präparierten Klaviers mischt sich hier auf eine virtuose Art und Weise mit dem der westafrikanischen Kora, des Udu Drums, der Mbira und der Djembé. Bei all der Lebensfreude, die das Oratorium MessiaSASAmbura vermittelt, mischen sich immer wieder sehr ernste Töne in Maximilian Guths Werk. Denn es ist vor allem eine kritische Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe und den Folgen der Christianisierung Ostafrikas.
Im März 2020 wurde das Asambura-Ensemble für seine Arbeit mit dem „Stiftungspreis Freiheit und Verantwortung“ der Hanns-Lilje-Stiftung zum Thema „Die bildende Kraft von Kunst und Kultur“ ausgezeichnet. Die Stiftung würdigte damit die Verdienste des Ensembles im Bereich des kulturellen und interreligiösen Dialogs. Darüber hinaus sind die Musiker*innen 2021 in drei Kategorien für den renommierten OPUS KLASSIK nominiert, der am 23. September in Hamburg verliehen wird.
Das Bemerkenswerte an diesem Ensemble aus professionellen Musikern ist nicht nur die Tatsache, dass die Mitglieder von Streichinstrumenten bis hin zur persischen Santur oder der südamerikanischen Marimba Instrumente aus allen Kontinenten der Welt beherrschen. Maximilian Guth gelingt es in seinen Kompositionen, den oft beschworenen theologischen Slogan „Einheit in Vielfalt“ im Sinne einer weltkirchlichen Betrachtungsweise mit Inhalt zu füllen.
Im März 2021 traf ich Maximilian zu einem ausführlichen Interview auf Zoom.
Wie kam es 2014 zu der Gründung des Asambura-Ensembles?
Ich hatte schon länger den Traum, mit besonderen Musiker*innen und Menschen intensiv an Klängen und Konzepten zu forschen und eine gemeinsame Klangsprache zu entwickeln. Asambura ist ein Begegnungsort für Menschen und Musiker*innen unterschiedlicher kultureller Prägung. Die entstehende Musik ist meist eine Neuinterpretation von einem klassischen Werk aus dem europäischen Kanon – durch den interkulturellen Blick von außen entsteht ein neuer Konzert-Zyklus.
Erste Gedanken zur Gründung des Asambura-Ensembles kamen mir während einer Reise nach Tansania. Im Rahmen einer ehemaligen kirchlichen Partnerschaft durfte ich bei einem Theaterprojekt erfahren, wie interkulturelles kulturelles Zusammenwirken funktionieren kann. Einige Jahre später bekam ich dann einen Kompositionsauftrag der Evangelischen Landeskirche von Westfalen: „Die Vertonung von Händels ‚Messias‘, kombiniert mit ostafrikanischer Musik“. Interessant – aber nicht unproblematisch vor dem Hintergrund der Geschichte Ostafrikas. Ein unreflektiertes „Loblied“ auf die Errungenschaften des Christentums in Afrika zu singen, war natürlich undenkbar: Denn Tansania ist sowohl in religiöser, als auch in kultureller Hinsicht ein sehr vielfältiges Land. Der Islam, spirituelle Religionen und Glaubenserfahrungen spielen im Gebiet des heutigen Tansania eine wichtige Rolle. So ist MessiaSASAmbura eine Reflexion über das Christentum im ostafrikanischen Kulturraum geworden.
Heute wird gerne übersehen, dass Händels „Messias“ nicht nur eine Offenbarung des christlichen Glaubens ist, sondern auch auf abstrakte, biblisch-theologische Art und Weise die Frage stellt, ob Jesus wirklich der von den Propheten angekündigte Messias war.
Der Messiah ist – theologisch wie musikalisch – sehr vielschichtig. Das Libretto verarbeitet alttestamentarische Texte, in denen häufig Zweifel als besonders wichtige Emotionen und Erfahrungen beschrieben werden – viel mehr als zum Beispiel in den Passionen im Neuen Testament. Das war für mich ein interessanter konzeptioneller Ausgangspunkt für die Komposition: Zweifel und Hinterfragen. Und auf der anderen Seite wurde das Messiah-Libretto von der anglikanischen Kirche bewusst und offensiv als eine Art Verteidigung des Christentums gegenüber den Atheisten formuliert. Eine spannungsreiche Ausgangsbasis also für ein interkulturelles Oratorium.
Anfangs sollte MessiaSASAmbura übrigens eine Komposition für ein Sinfonieorchester werden. Je länger ich mich mit dem Projekt beschäftigte, desto klarer wurde mir, dass sich diese Einschränkung auf die Wirkung des Werkes auswirken könnte. Schließlich konzipierte ich es für zwei Ensembles, die sich gegenüberstehen: Ein Barockensemble und ein klangfarblich extrem variables, neu gegründetes interkulturelles Ensemble. So konnten der Dialog zwischen den verschiedenen Musikstilen plastisch erlebbar gemacht werden für die Zuhörer*innen. Zwei Chöre, einer davon aus Ostafrika, waren in das Projekt MessiaSASAmbura involviert. Wir bekamen damals die Möglichkeit, mit einem Großteil unseres Asambura-Ensembles nach Tansania zu reisen waren dort sogar zu Gast bei einem Massai-Stamm…
Was für eine Erfahrung! Gab es mit den Angehörigen der Massai auch eine musikalische Annährung?
Ich habe tatsächlich ein Stück in dem Zyklus MessiaSASAmbura komponiert, das Elemente aus der Tradition der Massai verarbeitet. Die Gesangspassagen hatte ich auf vorherigen Reisen aufgenommen und an kompositorischen Übertragungen getüftelt. Vor Ort in Langata Ndoye musizierten wir dann gemeinsam mit einer Massai-Großfamilie: Eine unglaublich bewegende und lehrreiche Erfahrung. Am Ende konnten wir unsere Klangfarben sogar noch optimieren – unser Cellist hat zum Beispiel einen noch kratzigeren Sound am Frosch des Bogens erzeugt.
Der Bezug zu den Kräften der Natur findet sich nicht nur in euren Kompositionen, sondern auch im Namen eures Ensembles wieder. Wie entstand das Wortspiel mit dem Namen Usambara, dem größten Gebirge Tansanias?
Ich finde das Gebiet des heutigen Tansania sehr inspirierend, weil dort über 120 verschiedene Kulturen, Ethnien und Sprachen nebeneinander koexistieren. Daher steht „Asambura“ auch für die Interaktion dieser verschiedenen kulturellen Einflüsse. Gerade ist die politische Situation im Land etwas angespannt: Aber lange Zeit war Tansania ein Vorzeigeland, das sich durch den gelungenen interreligiösen Dialog seiner Bewohner auszeichnete. Wenn man von den Usambara Mountains auf das Land schaut, gewinnt man beinahe den Eindruck, als könne man hinter den Horizont schauen. Der Name unseres Ensembles spiegelt unser Interesse wider, sich intensiv mit der Schöpfungsgeschichte eines musikalischen Werkes auseinander zu setzen und gleichzeitig eine zeitgemäße Interpretation zu wagen. Ein Beispiel hierfür ist auch die Neu-Verarbeitung von Schuberts „Winterreise“ auf unserem Album „Fremd bin ich eingezogen„.
Ihr habt Franz Schubert weltberühmten Liedzyklus 2020 aus interkultureller Perspektive heraus neu interpretiert. Ich mag den Gedanken des ständigen Wanderns sehr. Oft ist das Unterwegssein aber auch ein Symbol für viel Leid – zum Beispiel, wenn man seine Heimat verlassen muss.
Und das macht Schubert so unglaublich aktuell. Er erinnert uns daran, wie viele Wanderer es gibt, die nirgendwo heimisch sind, nirgendwo anzukommen. In den persischen Gedichten, mit denen wir Schuberts Musik verbinden, gibt es ein schönes Motiv: Man macht sich auf den Weg und sucht durch die gleiche Farbe des Himmels Verbindung zu Menschen, die dieselben Erfahrungen durchleben. Dadurch fühlt man nicht mehr ganz so allein.
Warum bezeichnet ihr euch bewusst als ein interkulturelles und nicht als ein transkulturelles Ensemble?
Jeder Mensch wird ja von vielen unterschiedlichen Kulturen beeinflusst, jede und jeder ganz individuell. Das ist ein bisschen wie ein Malkasten, in dem die verschiedenen Farben in ihren Töpfchen sind und doch miteinander verlaufen. In klanglicher Hinsicht machen wir aber bestimmte Zeichen hörbar, die mehr oder weniger nah an der Wirklichkeit liegen. Diese Zeichen oder klanglichen Stereotype fassen kulturelle Traditionen zusammen, um Kontraste darzustellen, die wir umdeuten und damit neu kontextualisieren. Diese Traditionen kultureller Kollektive, von denen wir klanglich ausgehen, stehen auch für Orientierung und Identität, die in unseren Formaten eine wichtige Rolle spielen.
Hat der Begriff „Heimat“ für dich noch einmal eine völlig neue Dimension bekommen, seitdem du das Asambura-Ensemble gegründet hast?
Ja, der Begriff hat für mich viel mit einer Erinnerung zu tun, die man bewahren möchte. Ich hatte vor einiger Zeit ein sehr bewegendes Gespräch mit Abdulrahim, unserem syrischen Perkussionisten, der vor rund fünf Jahren aus seiner Heimat geflohen ist. Er war sich damals sicher, dass sich niemand hier in Deutschland auch nur im Ansatz für die Musik interessieren würde, die er in seiner Heimat machte. Nun spielt er bei uns im Ensemble und hat sogar bei dem interreligiösen Zyklus MISSA MELASUREJ mitkomponiert. Islamische Musik wird hier mit einem christlichen Renaissance-Choral verbunden. Durch den Dialog mit anderen Kulturen wird diese für ihn so wichtige Musik aus seiner Heimat in Deutschland noch einmal in einen anderen Kontext gerückt.
Bei der Bedeutung, die die Musik für viele Menschen, die in den vergangenen Jahren Zuflucht in Deutschland gefunden haben, hat wundert es mich, dass es nicht mehr Projekte wie das Asambura-Ensemble gibt.
Mich ebenfalls, wir haben ja ein relativ klar umrissenes Profil. Uns geht es ganz bewusst darum, religiöse Verbindungen vor dem Hintergrund eines breiten kulturellen Spektrums aufzuzeigen – musikalische Spiritualität und die Chance auf die Verbindung miteinander in der Musik.
Das Thema Religion ist immer eine heikle Angelegenheit, da es sehr viel mit gewachsenen Institutionen zu tun hat.
Hier müssen wir zwischen der gelebten und institutionalisierten Religion unterschieden. Im Namen der Religion ist auf der ganzen Welt Schreckliches passiert. Es gibt viele religiöse Gruppen, von deren Aussagen wir uns natürlich deutlich distanzieren, weil sie dem interreligiösen Dialog entgegenwirken. Und gleichzeitig gibt es tolle Initiativen für ein friedliches Miteinander, für die Zuwendung zu den sozial Schwächeren oder auch zur Umwelt – denn darum geht es letztendlich in allen Weltreligionen. Das Wort von Institutionen hat natürlich meistens mehr Gewicht als das von Einzelpersonen. Darin sehe ich ein großes Potenzial in der spirituellen klanglichen und interreligiösen Verbindung von Menschen.
Du hast Musik und evangelische Religion für das Lehramt an Gymnasien studiert. War die Förderung des interreligiösen Dialogs schon zu deinen Studienzeiten ein wichtiges Thema für dich?
Das Interesse für die Klänge, die in religiösen Traditionen eine Rolle spielen, war auf jeden Fall schon früh da. Eine interreligiöse Perspektive als wichtigstes Stilelement in meine Kompositionen einfließen zu lassen, kam erst später während meiner dritten von insgesamt sieben Reisen nach Tansania auf. Dort habe ich auch selbst gespürt, wie inspirierend ein klanglicher Dialog sein kann – zum Beispiel, indem man Muezzin-Passagen, neu gehörte Glockenklänge oder eine traditionelle Trance-Rhythmik in eine klassische Komposition einbaut.
Welche Themen stehen in eurer Vermittlungsarbeit, die ihr als Ensemble leistest, im Fokus?
Nicht immer stehen interreligiöse Fragestellungen im Fokus. Bei der MISSA MELASUREJ aber haben wir zum Beispiel Workshops mit Kinderchören verschiedener Schulen organisiert, die auch religionspädagogische Aspekte beinhalteten – das Kennenlernen und die Praxis verschiedener kultureller Traditionen aus dem Judentum, Islam und Christentum. Im jüdischen Gebet gibt es zum Beispiel ein Moment, in dem alle in eigenen Geschwindigkeiten rezitieren. In einem Stück dürfen die Kinder und Jugendlichen also die gleiche Melodie in verschiedenen Geschwindigkeiten singen und dadurch entsteht eine Klangwolke. Gar nicht so einfach, das mit den jungen Leuten hinzubekommen, aber immer ein besonderer Moment in den Workshops! Und dann ist natürlich wichtig, Vorurteilen entgegenzuwirken – vor allem in Bezug auf das Judentum und den Islam. Die Schüler*innen recherchieren mit unsere Hilfe nach Gebetstexten, die Frieden zum Thema haben und flüstern diese in den Aufführungen der MISSA MELASUREJ.
Während meiner Schulzeit gab es leider nur eine einzige Lehrerin, die aus eigenem Antrieb ein Jahr lang eine Art interreligiösen Religionsunterricht betrieben hat. Dabei hätte ich es gerade in der Grundschule sehr wichtig gefunden, dauerhaft in den Dialog mit meinen Mitschüler*innen zu kommen, die einer anderen Glaubensrichtung angehörten.
Noch heute findet der Religionsunterricht in den Schulen meist voneinander getrennt statt – dabei leben mittlerweile so viele Menschen mit unterschiedlichen religiösen Hintergründen unter uns. In Hamburg gibt es Experimente in Bezug auf interreligiösen Religionsunterricht. Es gibt mittlerweile bemerkenswerte Impulse wie das „Haus der Religionen“ in Hannover oder das interreligiöse „House of One“ in Berlin, das gerade gebaut wird.
Die Konzerte des Asambura-Ensembles finden oft in Kirchen statt: Warum seid ihr bisher nicht in Moscheen oder Synagogen aufgetreten?
Das wäre großartig, hat aber auch mit der Betrachtung von Musik in dem jeweiligen religiösen Kontext zu tun. Im Islam dürfen beispielsweise Koran-Texte nicht in einem öffentlichen Kontext künstlerisch verarbeitet und gesungen werden, Instrumente werden meist nicht verwendet. In der MISSA MELASUREJ gibt es daher geflüsterte religiöse islamische Gedichte und klangliche wie instrumentale Neudeutungen. Auch in der jüdischen Liturgie ist übrigens der Einsatz von Instrumenten während der Gebete meist nicht vorgesehen.
Die Begegnung unterschiedlicher Kulturen wirft immer Fragen nach der Offenheit gegenüber dem Unbekannten, nach Toleranz und nach der Dominanz der eigenen Kultur auf. Was zeichnet das Asambura-Ensemble, in dem 55 Individuen mit unterschiedlicher kultureller Prägung zu einer musikalischen Einheit verschmelzen, deiner Meinung nach besonders aus?
Eine Neugier in Bezug auf andere Kulturen und die Bereitschaft, ein tieferes Verständnis für das „Fremde“ und Unbekannte zu wecken. Mir war es wichtig, dass uns ein ästhetisches Grundverständnis für unsere Art, Musik zu denken und zu spielen, eint. Vor allem aber wollen wir gemeinsam an Klängen forschen und durch viel Eigeninitiative entwickeln, etwas Neues im Bereich der „klassischen“ Musik entstehen zu lassen.
Wie haben die Musiker mit Fluchterfahrung den Weg zu euch ins Ensemble gefunden?
Vor allem durch das „Global Board“ – eine Kontakt- und Servicestelle des Musiklandes Niedersachsen für geflüchtete Musiker*innen, die 2016 eingerichtet wurde – hier bin ich Maher Farkouh sehr dankbar. Mittlerweile läuft sehr viel über Empfehlungen unserer Ensemblemitglieder, die sich ihrerseits wieder ein Netzwerk aus spannenden Musiker*innen in ihren jeweiligen Wohnorten in Deutschland aufgebaut haben.
Gibt es üblicherweise erst einmal einen sehr intensiven mündlichen Austausch über eine Komposition, bevor du mit deiner Arbeit als Komponist beginnst?
Auf jeden Fall. Wir organisieren im Moment drei digitale Treffen unseres Ensembles pro Woche: Eines ist für den künstlerischen Austausch gedacht, eines für die Klärung organisatorischer Fragen und eines für alle Belange rund um unseren Verein und die Vermittlungsarbeit von Asambura. Unser Ziel ist es, gerade diesen Bereich in Zukunft noch stärker auszubauen. Ich würde uns von unserer Ausrichtung her als Mischung zwischen Ensemble und Kollektiv beschreiben – gerade deswegen braucht es sehr viel Möglichkeiten, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Ich bin sehr glücklich und empfinde es als großes Geschenk, mit so vielen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkünfte und Biografien zusammenarbeiten zu dürfen!
Was ist euch in Bezug auf den interreligiösen Ansatz, den ihr mit dem Asambura-Ensemble verfolgt, besonders wichtig?
Dass wir nicht einfach Versatzstücke der religiösen Traditionen nebeneinanderstellen. Vielmehr geht es uns darum, Kompositionsprinzipien zu entwickeln, bei denen der Einfluss verschiedener Religionen ganz subtil hör- und spürbar ist. Eine Situation an der Klagemauer in Jerusalem hat sich diesbezüglich bei mir während meiner Reisen nach Israel eingeprägt: Da es im Judentum eine sehr individuelle Verbindung zwischen den Betenden und Gott gibt, bedeutet dies, dass jeder sein Gebet in seiner eigenen Geschwindigkeit und auf seiner eigenen Tonhöhe rezitiert. Eine Herangehensweise, die sich grundsätzlich von dem ritualisierten, gemeinsamen Beten des Vaterunsers im christlichen Glauben unterscheidet. In Jerusalem hatte ich das überwältigende Gefühl, in einer Klangwolke zu stehen, obwohl alle um mich herum ähnliche Texte rezitierten. Die Erfahrung, das Einstimmige in der Mehrdimensionalität zu sehen, fand ich sehr bewegend.
Bis heute haben wir europäischen Zuhörer*innen von der Musikkultur jenseits des europäischen Kontinents oft nur vage Vorstellungen. Daher besteht gerade bei interkulturellen Projekten die Gefahr der kulturellen Aneignung durch die vermeintlich gebildetere weiße Bevölkerung.
Absolut! Die Musik, die ich zum Beispiel in Tansania kennenlernen durfte, hat sich durch den Einfluss der europäischen Keyboards, Posaunenchöre und Gesangsbücher sicher sehr verändert. Nicht nur die Rhythmik, sondern auch die Harmonik war weit von dem entfernt, was hierzulande in kommerzieller Hinsicht als „afrikanische Musik“ verkauft wird. Gerade bei unserem MessiaSASAmbura-Projekt, wo wir Händels „Messiah“ mit Elementen der vielfältigen tansanischen Musik kombinieren, spielen wir mit Stereotypen, die wir anschließend aufbrechen. Gefährlich wird es für mich immer da, wo der Rhythmus als etwas Unzivilisiertes, Exotisches dargestellt und die klassische Musik per se als Hochkultur bezeichnet wird.
Auch wenn viele von uns sich gerne als sehr aufgeklärt bezeichnen, wenn es um den Umgang mit dem kolonialen Erbe ihres Landes geht: Viele Denkweisen sind bis heute fest in den Köpfen der weißen Mehrheitsgesellschaft verankert.
Das ist zweifelsohne richtig. Für mich geht es darum, wie ich mich und meine eigene kulturelle Sozialisation durch den Austausch mit Musiker*innen, die einen anderen kulturellen Background als ich haben, neu kennenlernen darf und aus diesem Prozess heraus komponieren kann.
Wie könnte man die Klassikbranche deiner Meinung nach langfristig diverser und offener gestalten?
Indem man vor allem die seit dem 19. Jahrhundert unveränderte Aufführungspraxis in den großen Konzerthäusern in Frage stellt. Die Orchester und Chöre diverser zu besetzten, ist vollkommen richtig, greift aber eventuell zu kurz. Um für langfristige Veränderungen im Konzertbetrieb zu sorgen, ist ein intensiver Austausch von Musiker*innen aller Ethnien notwendig. Und die Bereitschaft, gemeinsam neue Wege zu beschreiten, wenn es um die Vermittlung „klassischer Musik“ geht.
Lieber Maximilian, ich danke dir sehr für dieses Gespräch und für all die spannenden Anregungen und Informationen, die ich dadurch erhalten habe! Alles Gute weiterhin für dich und für die Mitglieder des Asambura-Ensembles: Ich hoffe, dass ich euch bald einmal auf der Bühne erleben darf.
Mehr Infos über das Asambura-Ensemble und über Maximilian Guth:
https://asambura-ensemble.de/
http://maximilianguth.com/
Instagram @asamburaensemble Facebook @AsamburaEnsemble