
Am 31. Mai 2020 wäre Rainer Werner Fassbinder 75 Jahre alt geworden. In Zusammenarbeit mit den Fassbindertagen e.V. präsentierte das Filmmuseum München an seinem Geburtstagsabend zwischen 20 und 24 Uhr sechs Kurzfilme von Münchner Künstlern, die den Geist des legendären Regisseurs wieder aufleben ließen, ohne dessen Werk zu verklären. Eine Kurzkritik zu den drei bemerkenswertesten Werken, die im Rahmen des Online-Benefiz-Events für die Münchner Programmkinos entstanden.
1. 12qm Körperformation I Ein digitales Kurzdrama von Emre Akal und Kazim Akal
„Da draußen ist Blut“, hallt es durch die Nacht, während sich die Bühne dreht und den Blick weg lenkt von der scheinbaren Idylle ihres Wohnzimmers. „Muss auch was Schönes gegeben haben“, flüstert eine Frauenstimme wenig später, als sie mit weit aufgerissenem Mund die Silhouette ihres Mannes durch das Fenster betrachtet.
Wie eine Nachricht aus dem Reich des Todes wirkt in Emre und Kazim Akals Kurzdrama 12qm Körperformation der Versuch der Ehefrau, sich in ihrer ausweglosen Lage Gehör zu verschaffen. Regungslos liegt sie zu Beginn in einem Sessel, während ihr Mann ihr die Haare kämmt. Kaum zu ertragen ist das Geräusch des mechanischen Aktes, den die Frau ohne Gegenwehr über sich ergehen lässt.
Die Szene in 12qm erinnert an das In-Szene-Setzen von Macht und Unterdrückung Rainer Werner Fassbinders Spielfilm Whity aus dem Jahr 1971. In einem Herrenhaus irgendwo im Westen der USA wird der unterwürfige schwarze Diener Whity – ein illegitimer Sohn des Gutsbesitzer Ben Nicholson – zum Spielball inmitten diverser Intrigen im Hause Nicholson. Frank, Bens homosexueller Sohn aus erster Ehe, fordert Whity auf, seinen Vater zu töten und wagt eine sexuelle Annäherung an ihn. „Komm her, mein Kleiner, und kämm mir die Haare. Du darfst mir nicht wehtun, ja?“ Bereitwillig übernimmt Frank in diesem perfiden Rollenspiel den Part des Unterworfenen – bis sich Whity weigert, seinem Tötungsbefehl Folge zu leisten.
Fassbinder sah stets die gesamtgesellschaftliche Dimension hinter dem, was sich hinter verschlossenen Türen im familiären Raum abspielt. Auch in dem digitalen Drama der beiden Künstler Emre und Kazim Akal (Mehmet & Kazim) schlägt Sprachlosigkeit in Gewalt um: In 12qm widmen sich die Zwillinge dem Thema häusliche Gewalt in Krisenzeiten. Mithilfe von Virtual-Reality-Brillen trafen sich die Brüder in den vergangenen Wochen in einem gemeinsamen virtuellen Raum, in dem sie aus virtueller Knetmasse eine Beziehungsrealität erschufen, die in den Zeiten des Lockdowns zum Gefängnis wird. Das laute Ticken der bedrohlich wirkenden Katzenuhr an der Wand, deren Pendel einem Vibrator gleicht, ist ein Symbol für die Angst, die in diesen Räumen herrscht. Kai Krösches Sounddesign liefert den Rhythmus für dieses beklemmendes fünfminütiges Kurzdrama, das an analoge Stop Motion-Knetmasse-Filme erinnert und durch die Abstraktion des Dargestellten einen umso stärkeren Eindruck hinterlässt. Häusliche Gewalt – das macht 12qm auf eindringliche Art und Weise klar – ist eine Tatsache, die sich auch hinter den Fenstern herausgeputzter Vorgärten abspielt. Neugierige Beobachter mit Mundschutz gäbe es zu Genüge am Fensterbrett: Doch sie unternehmen nichts, um die Frau aus ihrer in Rosa- und Orange-Tönen gehaltenen familiären Hölle zu befreien.
2. „Null Komma Null“ von Christian Wagner
Was hätte Fassbinder wohl zu den Bedingungen gesagt, unter denen heute Filme entstehen? Vermutlich hätte er den Kopf geschüttelt über das jahrelange Hin- und Her in Sachen Finanzierung oder über die komplizierten Abnahmeprozesse, bis die Drehfassung eines Films endlich genehmigt ist. Und sicherlich hätte er auch 2020 einen Weg gefunden, ohne großes Budget, aber mit einer überbordenden Kreativität und spannenden Schauspielern Meisterwerke zu erschaffen, die die Zeit überdauern.
Null Komma Null von Christian Wagner wäre ein Film ganz nach dem Geschmack des Enfant terrible des deutschen Films gewesen: In nur fünf Wochen entstand dieser Kurzfilm vom ersten Drehtag bis zur finalen Fertigstellung. Gedreht an Original-Locations wie Fassbinders Geburtshaus oder dem Kino von Bad Wörishofen, erzählt Null Komma Null die Geschichte eines indischen Dokumentarfilmteams, das sich in Bayern auf die Spuren von Rainer Werner Fassinder begibt. Dieser Kurzfilm ist im Jahre 1978 angesiedelt – einem der produktivsten Jahre innerhalb der rund 16-jährigen Schaffensperiode des exzentrischen Regisseurs – und nutzt die Super 8- und 16mm-Optik, um eine Film-im-Film-Geschichte über eine Kneipp-Bademeisterin zu erzählen, die Fassbinder angeblich schon als Baby kannte.
Dass Christian Wagner mit Null Komma Null ein derart amüsanter Umgang mit dem Erbe Rainer Werner Fassbinders gelungen ist, liegt vor allem an seiner Hauptdarstellerin Traute Hoess, die in vier Filmen des Regisseurs wie Lili Marleen und Berlin Alexanderplatz mitwirkte. Wild war er, der liebe Rainer – um sich beruhigen, badete er gerne in einer dazu deklarierten Heilquelle. Eine sehr gute Freundin sei Fassbinders Oma Agnes für sie gewesen – oder doch nur eine Bekannte? Homosexuell, der Rainer? Nein, so etwas sei hier auf dem Land kein Thema.
Christian Wagner beweist mit Null Komma Null, dass große Kunst weder ein großes Budget, noch viel Zeit braucht. Rainer Werner Fassbinder drehte seine Erstlingswerke übrigens größtenteils binnen weniger Tage – und er stürzte sich immer wieder in Projekte, bei denen die Finanzierung alles andere als geklärt war: „Nur so entstehen bei uns Filme: Indem man sie ohne Rücksicht auf Verluste macht.“
3. Traum der Seelenfrieda aus „Einem Jahr mit 13 Monden“
„Es gibt kein wirkliches Leben auf der wirklichen Welt – und dieses wirkliche Leben wäre bedeutender, als zu lieben“, rezitiert der Erzähler in dem Kurzfilm Traum der Seelenfrieda aus dem Fassbinder-Film In einem Jahr mit 13 Monden. Der Schauspieler Michele Cuciuffo wählte für sein filmisches Geburtstagsgeschenk ein Werk des Regisseurs aus, das bei mir bis heute den nachhaltigsten Eindruck hinterlassen hat. Fassbinder verarbeitete mit seiner Geschichte über die transsexuelle Elvira Weishaupt den Selbstmord seines einstigen Geliebten Armin Meier, der sich nach der Trennung von ihm mit einer Überdosis Schlafmittel das Leben nahm.
Auch in Michele Cuciuffos Interpretation von In einem Jahr mit 13 Monden geht es um seelische Entgrenzung und die Suche nach dem Glück. In der Abgeschiedenheit seiner Wohnung in einen intimen Dialog mit den Zuschauern, denen er von einer seltsamen Begebenheit auf einem Friedhof erzählt. Grabsteine mit seltsamen Inschriften lassen vermuten, dass keiner der Toten älter als zwei Jahre geworden ist. Doch ein alter Friedhofsgärtner erzählt ihm, dass die Zahlen auf den Gräbern symbolisch für diejenige Zeit stehen, in denen der Mann oder die Frau unter der Erde zu Lebzeiten einen wahren Freund hatte.
Michele Cuciuffos Hommage an Fassbinder ist eine Liebeserklärung an die Präzision und Poesie der Sprache in seinen Filmen. Nur eine Lampe über dem Spiegel bringt ein wenig Licht in die ansonsten vollkommene Dunkelheit des Zimmers, in dem Cuciuffos Erzähler in dieser fundamentalen Krise auf sich selbst zurückgeworfen ist. Traum der Seelenfrieda ist ein berührender, leiser und dadurch umso kraftvollerer Appel, den Blick in einer Welt voller Egoismus nicht von denen abzuwenden, die in diesen schwierigen Zeiten mit ihren inneren Dämonen zu kämpfen haben.
Weitere Infos zu den Fassbindertagen:
„Fassbinder zum 75.“ ist eine Online-Benefizaktion zugunsten der Münchner Programmkinos. Höhere Spenden sind willkommen.
Banküberweisung
Kontoinhaber: Fassbindertage e.V.
IBAN: DE55 7019 0000 0002 1051 28
Betreff: Kinospende + Name + e-mail Adresse
Münchner Bank eG, BIC: GENODEF1M01
Die Spenden gehen an folgende Kinos:
ABC Kino | Arena Filmtheater | Cinema | Cincinnati | Das neue Maxim | Filmtheater Sendlinger Tor | Leopold Kinos | Monopol | Museum Lichtspiele | Neues Rex Filmtheater | Neues Rottmann | Rio Palast | Studio Isabella | Theatiner Film | Werkstattkino
Alle Spender können zudem eine steuerlich absetzbare Spendenquittung erhalten. Mehr Informationen dazu erteilt Andrea Funk unter andrea.funk@fassbindertage.de.