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Allgemein Bühnengeflüster

radikal jung-Kurzkritiken 2023: DSCHINNS und WOYZECK

Gestern ging das radikal jung-Festival für junge Regie am Münchner Volkstheater mit der Verleihung des Publikumspreises an die Produktion SISTAS! von Isabelle Redfern und Katharina Stoll zu Ende. Drei Produktionen konnte ich in diesem Jahr sehen – zu WOYZECK von Jan Friedrich am Theater Magedeburg und DSCHINNS von Selen Kara am Nationaltheater Mannheim habe ich Kurzkritiken auf meinem Instagram-Kanal veröffentlicht.

Endlich wieder „radikal jung“ am Münchner Volkstheater! Am 30.04. präsentierte die Regisseurin Selen Kara hier zusammen mit dem Ensemble des Nationaltheaters Mannheim die Inszenierung DSCHINNS nach dem gleichnamigen Roman von Fatma Aydemir.

Einmal mehr beweist Kara, die bereits Aydemirs Roman ELLBOGEN für das Nationaltheater Mannheim adaptierte, dass es vor allem eines braucht für einen gelungenen Theaterabend: Ein echtes Interesse für die Gefühle, Träume, Ängste und Sehnsüchte der Figuren. Als groß angelegtes Familienepos hat die designierte Co-Intendantin des Schauspiel Essen Aydemirs episodenhaft angelegten Familienroman auf die Bühne gebracht. Ihr Ensemble sucht dabei gezielt die Verbindung zum Publikum, anstatt in den Duktus der Anklage zu verfallen.

Erzählt wird in DSCHINNS die Geschichte von Emine und ihren Kindern Ümit, Peri, Sevda und Hakan, die nach Istanbul reisen, nachdem ihr Vater Hüseyin dort unerwartet an einem Herzinfarkt gestorben ist.

Auf sehr eindrucksvolle Art und Weise gelingt es den Schauspieler*innen Tala Al-Deen, Yasin Boynuince, Newroz Celik, Almut Henkel, Sümeyra Yilmaz und Arash Nayebbandi, das Schicksal ihrer Figuren in all ihrer Tragik und Komik für das Publikum greifbar zu machen.

Ein weiteres Highlight meines gestrigen Besuchs beim „radikal jung“-Festival waren die Gespräche, die ich nach der Vorstellung mit Yasin Boynuince und dem Regisseur Caner Akdeniz, die sich aus ihrem Studium an der Bayerischen Theaterakademie August Everding kennen, führen durfte.

Weil Theater ein lebendiger, sich ständig verändernder Organismus ist, finde ich den Austausch über die verschiedenen Arten und Weisen, Geschichten auf der Bühne zu erzählen, umso wichtiger. Daher freue ich mich sehr auf die Intendanz von Selen Kara und Christina Zintl am Schauspiel Essen ab der kommenden Spielzeit – weil ich weiß, dass die beiden den Dialog darüber, wie wir Theater in Zukunft gemeinsam gestalten wollen und können, weiter vorantreiben werden.

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Am letzten Tag des radikal jung-Festivals präsentierten der Regisseur Jan Friedrich und sein Ensemble vom Theater Magdeburg auf der großen Bühne des Volkstheaters ein Gastspiel ihrer Inszenierung WOYZECK. Ein spannender Theaterabend, in dem die Geschichte von Woyzeck als Videospiel im Ego-Shooter-Stil neu interpretiert.

In dem düster-atmosphärischen Setting einer Computerspiel-Welt, das Jan Friedrich unterstützt von dem Videokünstler Nico Parisius und der Kostümbildnerin Vanessa Rust für seine Inszenierung entworfen hat, werden die Spieler*innen Anton Andreew, Marie-Joelle Blazejewski, Julia Buchmann, Philipp Kronenberg, Bettina Schneider, Robert Lang-Vogel, Mia Rainprechter in ihren Rollen zu Gefangenen ihres eingeschränkten Aktionsradius – und radikalisieren sich in einem Umfeld, in dem jede Form zwischenmenschlicher Kommunikation von Machtstreben, Habgier und der Gier nach schnellen Geld überlagert wird, zunehmend.

Dass Woyzeck in diesem Netz aus Lügen und Intrigen mehr und mehr zum Getriebenen wird, liegt in Jan Friedrichs Version des 1913 uraufgeführten Büchnerschen Dramenfragments vor allem an dem herablassenden Umgang, den Marie mit ihm pflegt. Marie nimmt hier nicht die Opferrolle ein, sondern ist Teil eines Systems, in dem das Individuum in einer Masse aus manipulierbaren Wesen aufgeht.

Ich hätte mir an vielen Stellen an diesem Abend gewünscht, noch tiefer in das Seelenleben der Figuren eindringen zu können – und ich hätte mich zu gerne in einer anderen Art von Theaterraum zusammen mit den Spieler*innen durch das Videogame-Universum bewegt, um herauszufinden, was diese Erfahrung mit mir macht.

Philipp Kronenberg als Woyzeck in Jan Friedrichs gleichnamiger Inszenierung am Theater Magdeburg

Das „radikal jung“-Festival ist und bleibt für mich jedes Jahr eine Herzensangelegenheit – schließlich erinnere ich mich sehr gerne daran zurück, wie ich hier 2011 und 2012 täglich im Rahmen meines Kulturkritik-Studiums an der Herausgabe der Festivalzeitschrift arbeiten durfte. 96% Auslastung in diesem Jahr sprechen für sich: So viele junge Menschen wie in den vergangenen Tagen habe ich lange nicht mehr in einem Theater gesehen! Chapeau, lieber Christian Stückl und liebes Volkstheater-Team!


RADIKAL JUNG 2023: 

https://www.muenchner-volkstheater.de/programm/radikal-jung/stuecke

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