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Allgemein Bühnengeflüster

Digitale Bewusstseinserweiterung

© Colette Sadler „(Re) Searching BODY A“ Mikko Gaestel

In diesem Jahr findet die 16. Ausgabe des Festivals TEMPS D’IMAGES des Tanzhauses nrw erstmalig digital statt. Noch bis 31.01.2021 erkunden die Künstler*innen Choy Ka Fai, Colette Sadler, DIN A 13 tanzcompany, fabien prioville dance company und Simon Senn gemeinsam mit dem tanzhaus nrw die tänzerischen Möglichkeiten, die ihnen der digitale Raum bietet. Colette Sadler und Simon Senn sind dabei mit (Re) Searching BODY A und Be Arielle F zwei sehr sehenswerte Inszenierungen gelungen.

Welch eine Ausgangsidee für eine Performance: Auf der Webseite www.3dscanstore.com kaufte der Schweizer Videokünstler Simon Senn die digitale Kopie eines weiblichen Körpers und erweckte die erworbene Datei – eine statische, fotorealistische 3D-Darstellung des Körpers einer real existierenden jungen Frau – in der digitalen Welt zum Leben.

Penn ging für seine Performance B Arielle F schließlich noch einen Schritt weiter und nahm mithilfe der Virtual Reality-Techologie die Gestalt seines Avatars an. Darüber hinaus begab es sich in den sozialen Netzwerken auf die Suche nach derjenigen Frau, deren Körper er für einen begrenzten Zeitraum angenommen hatte.

Auf eine faszinierende Art und Weise begannen die Trennlinien zwischen den Geschlechtern in B Arielle F immer mehr zu verschwimmen. Der weibliche, nackte Körper wirkte dabei wie ein Kostüm, dessen Charakteristika im Verlauf der Inszenierung bis hin zur Beschaffenheit der Haut und der Haare für den Zuschauer sichtbar wurden. Simon Senn gelang es, in seiner Performance einen Raum innerhalb der digitalen Welt zu schaffen, in dem ohne jeglichen physischen Kontakt eine intensive Annäherung zwischen einem Mann und einer Frau stattfinden konnte. B Arielle F ist weniger als Tanzperformance, sondern als Versuchsanordnung zu verstehen, in der Senn als Schöpfer des rätselhaften Zwitterwesens immer wieder erklärende Kommentare zum Entstehungsprozess seines künstlerischen Experiments abgibt.

Es war ein irritierender und zugleich aufregender Moment, als das reale Vorbild des Avatars Arielle am Ende der Performance  plötzlich auf Zoom auftauchte und dort mit Simon Senn und den Zuschauern ins Gespräch kam. Schließlich bewegte man sich wenige Minuten zuvor noch gemeinsam entlang der intimen Stellen der nach ihrem Vorbild geformten digitalen Mann-Frau-Körper-Version. Noch spannender als das kurze Interview zwischen der jungen Frau und Simon Senn, das Teil eines jeden B Arielle F-Abends ist, wäre es jedoch gewesen, Arielle mithilfe der Virtual Reality-Techologie mit ihrem virtuellen Ich in Kontakt treten zu lassen.

https://youtu.be/xVUR6EWRYr8

 

Nach dieser ersten bewusstseinserweiternden Erfahrung im Rahmen des Festivals Temps d’Images des tanzhaus nrw fand ich mich einige Tage später zu meiner zweiten Festivalvorstellung wieder auf Zoom ein. Ich war gespannt auf den partizipativen Online-Workshop (Re) Searching BODY A der britischen Choreographin Colette Sadler, bei dem den Teilnehmer*innen eine „auditiv-hypnotische Erfahrung“ versprochen wurde.

Man sollte Colette Sadlers Rat, ihre choreografische Tonspur mit Kopfhörern zu genießen, unbedingt befolgen, wenn man wie ich eine Reise in das eigene Unterbewusstsein unternehmen möchte.

„Listen to my words and you will feel better“, sagte die männliche Stimme zu Beginn der Performance am anderen Ende der Leitung, die klang wie aus einer fernen Galaxie. Sie erzählte von einem Mutterunternehmen namens Vessels Inc., das einen neuen Prototypen erschaffen hatte, der aussah wie unser eigener Körper.

Was sich in der darauffolgenden Stunde abspielte, grenzte an Magie: Wie von einer unsichtbaren Hand geleitet, fingen meine Beine und Hände an, sich immer expressiver im Takt der Musik von Mikko Gaestel und Heiko Tubbesing zu bewegen.

Es war faszinierend, zu erleben, wie ich nach einer Woche voller negativen Corona-Nachrichten an jenem Freitagabend plötzlich sehr ruhig wurde. Wie ich plötzlich gleichmäßig atmete. Und wie ich mich tatsächlich „refreshed“ und in jenem Zustand totaler Entspannung befand, den die beruhigende Stimme am anderen Ende immer wieder predigte.

Hätte (Re) Searching BODY A in einem Theaterraum stattgefunden, wären meine Hemmungen, mich frei und ungezwungen mit anderen Menschen um mich herum durch den Raum zu bewegen, vermutlich groß gewesen. In meinen eigenen vier Wänden jedoch hatte diese sehr eindrucksvolle Art und Weise, mit dem eigenen Körper in Beziehung zu treten, eine beinahe therapeutische Wirkung auf mich. Viele Dinge in meinem Wohn- und Schlafzimmers, das ich seit Wochen nur zum Spazierengehen und Einkaufen verlasse, nahm ich in diesem tranceartigen Zustand plötzlich mit ganz anderen Augen wahr. An diesem Abend wurde mir mehr als deutlich klar, wie sehr mir der Tanz derzeit als Kommunikationsmedium fehlt. Und dass es im Februar genau ein Jahr her ist, dass ich auf der letzten Veranstaltung war, auf der ich mich ohne Angst vor zu viel Nähe ausgelassen auf der Tanzfläche bewegen konnte.

Es fühlte sich sehr gut an, nach dieser existenziellen Erfahrung in die Realität zurückzukehren. Der Raum, in dem ich mich während Colette Sadlers Performance befand, war immer noch derselbe. Aber ich hatte mich im Laufe dieser Stunde, die wie eine Meditation anmutete, verändert. Befreit, zuversichtlich, motiviert und positiv blickte ich an diesem Abend in die Zukunft. Denn ich spürte, dass wir die Nähe zu anderen Menschen, die wir in diesen Wochen so schmerzlich vermissen, schon bald wieder zulassen dürfen.


Festival TEMPS D’IMAGES
09.01.-31.01.2021
tanzhaus nrw

Mehr Informationen unter: https://tanzhaus-nrw.de/

Tickets unter: https://tanzhaus-nrw.de/de/specials/festival/temps-dimages-2021/events

Facebook @tanzhausnrw, Instagram @tanzhausnrw

 

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