Noch bis 10. April findet die 33. Festivalausgabe der Türkischen Filmtage München im Gasteig HP8 in der Hans-Preißinger-Straße 8 und online statt. 9 Spielfilme, 8 Dokumentarfilme und 6 Kurzfilme werden im Rahmen des Festivals präsentiert – ich hatte die Gelegenheit, am 30.03. bei der Deutschlandpremiere des sehr beeindruckenden Dokumentarfilms „Bitmemiş Cümleler / Incomplete Sentences“ der Regisseurin Adar Bozbay im Gasteig dabei zu sein.
Als die Schriftstellerin Aslı Erdoğan am 30.03. nach der Vorführung des Dokumentarfilms „Bitmemiş Cümleler“ im Saal Projektor des Gasteig HP8 in Sendling mit dem Publikum ins Gespräch kam, hatte man für einen Augenblick den Eindruck, als könne Erdoğan allein durch ihre Worte diejenigen Mauern überwinden, die sie seit fast fünf Jahren von ihrer Heimat trennen.
„Vielleicht müsste ich mich aufrichten, mich aus dem Brunnen des Gedächtnisses herausziehen, einen Schritt auf die Geschichte zugehen, die auf mich wartet. Sie wartet stumm auf mich, sieht mich aus nur halb geöffneten Augen an. Als blickte sie in einen Spiegel. Um auf sie zugehen zu können, muss ich auf schwarzen Schnee treten“, heißt es in ihrem 2019 in Deutschland erschienenen Roman „Haus aus Stein„, in dem Erdoğan von staatlicher Willkür und dem Verlust aller Sicherheiten schreibt.
Seit 2017 lebt Erdoğan, die in ihren literarischen Werken auf virtuose Art und Weise das Fremde und Andere vor dem Hintergrund der türkischen Gesellschaft und globaler Entwicklungen auslotet, im Exil in Deutschland. Die 1967 in Istanbul geborene Autorin zählt zu den renommiertesten türkischen Schriftstellerinnen und Publizistinnen. Nach ihrem Schulabschluss entschied sich die hochbegabte junge Frau zunächst für ein Studium der Informatik und der Physik und arbeitete anschließend im Genfer Kernforschungszentrum CERN. Während ihrer Zeit in Genf entstand in Teilen ihr erster Roman „Der wundersame Mandarin“, der 1996 veröffentlicht wurde. Nach ihrem Durchbruch mit dem Roman „Die Stadt mit der roten Pelerine“ begann Erdoğan auch journalistisch tätig zu werden.
Sie trat in der Türkei nicht nur als Fürsprecherin der kurdischen Minderheit öffentlich in Erscheinung, sondern machte auch durch ihr Engagement für politische Gefangene, Frauen- und Menschenrechte auf sich aufmerksam. Im Zuge einer groß angelegten Verhaftungswelle nach dem gescheiterten Putschversuch in ihrer Heimat wurde die Autorin im August 2016 zusammen mit anderen Mitarbeitern der prokurdischen Tageszeitung Özgür Gündem festgenommen, für die sie als Kolumnistin tätig war. Nach 132 Tagen entließ man die Schriftstellerin im Dezember 2016 aus der Untersuchungshaft, ohne dass die gegen sie erhobenen Vorwürfe aufgehoben worden wären. Da ihr Fall weltweites Interesse erregt hatte, konnte Erdoğan 2017 aus der Türkei ausreisen, um den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück in Empfang zu nehmen. Seither ist sie nicht mehr zurückgekehrt in ihr Heimatland, wo ihr eine lebenslange Haftstrafe droht. Derzeit lebt Aslı Erdoğan in Berlin und ist seit Oktober 2019 Stipendiatin des „Writers in Exile„-Programm des PEN-Zentrums Deutschland.
Eigentlich habe sie nach dem Dreh des Porträts “Aslı Erdoğan – Grenzgängerin zwischen Himmel und Tod“ keinen weiteren Dokumentarfilm-Dreh zusagen wollen, erzählte Erdoğan beim Publikumsgespräch nach der Weltpremiere von „Bitmemiş Cümleler / Incomplete Sentences“ in München. Der 2010 erstmals im WDR ausgestrahlte Dokumentarfilm des Kölner Filmemachers Osman Okkan entstand im Rahmen der zweisprachigen Dokumentarfilmreihe „Menschenlandschaften. Sechs Autorenportraits der Türkei„. Doch dann traf Erdoğan auf die Regisseurin Adar Bozbay, die Erdoğans Literatur und insbesondere diejenigen Texte, in den sie von der schwierigen Situation für die Kurden in der Türkei schreibt, in den 1990er Jahren entdeckt hatte.
Bereits mit der Wahl des Titels für ihren ersten Dokumentarfilm macht Bozbay klar, dass ihre sehr bewegende Annäherung an Aslı Erdoğan weit mehr ist als das Porträt einer politischen Gefangenen. Man bekam an jenem Abend im Gasteig eine Ahnung davon, wie schmerzvoll es für Erdoğan sein muss, nicht mehr täglich von derjenigen Sprache umgeben zu sein, deren Melodik den Rhythmus ihrer literarischen Texte prägt – immer wieder sprach Erdoğan im Podiumsgespräch im Gasteig darüber, wie herausfordernd es sei, ihre Roman in andere Sprachen zu übersetzen. Erdoğans Zerrissenheit zwischen ihrer Heimat und Deutschland – einem Land, in dem sie zwar von außen betrachtet in Frieden leben kann, aber keinen inneren Frieden findet – sind das Hauptthema dieses herausragenden 60-minütigen Dokumentarfilms von Adar Bozbay, der nicht nur auf der visuellen, sondern auch auf der musikalischen Ebene beeindruckt.
Bozbay, die zum Zeitpunkt der Verhaftung von Aslı Erdoğan Managerin der Bigudi Bar – dem ersten exklusiv lesbischen Veranstaltungsort in der Türkei – war, erzählte von den beiden Solidaritätsveranstaltungen, die sie dort für die Schriftstellerin organisierte. Als Kurdin und Teil der queeren Community hat Adar Bozbay in der Vergangenheit sicherlich ihre eigenen Wunden und Erfahrungen mit Diskriminierung gemacht: Die große Stärke ihres Films ist jedoch, dass sie diese in „Bitmemiş Cümleler“ nicht zum Thema macht, sondern ihren filmischen Blick ganz auf Aslı Erdoğan richtet. Durch Erdoğans besten Freund, den Schauspieler und Regisseur Mehmet Atak, kam Bozbay einst in Kontakt mit der Schriftstellerin und gewann das Vertrauen der promovierten Physikerin, preisgekrönten Autorin, Journalistin und Menschenrechtsaktivistin. Vier Jahre begleitete Bozbay Aslı Erdoğan mit ihrer Kamera und folgte ihr von der Türkei bis ins Exil nach Deutschland.
Bozbays Blick auf Erdoğan ist sehr persönlich, aber nie voyeuristisch oder zu privat – auch wenn darin viele Menschen aus Erdoğans nächsten Umfeld wie eine ehemalige Mitgefangene und ihre Mutter in ausführlichen Interviewpassagen zu Wort kommen. Wie es Adar Bozbay gelingt, in ihrem Dokumentarfilm die Balance zwischen freundschaftlicher Annäherung und dokumentarischer Distanz zu finden, ist faszinierend mit anzusehen. „Bitmemiş Cümleler“ lebt aber nicht nur von den eindrücklichen Gesprächen zwischen Adar Bozbay und ihren Gesprächspartner:innen, sondern auch von den vielen kleinen Momentaufnahmen und Beobachtungen, die der Regisseurin an ihren jeweiligen Drehorten gelingen.
In einer der bewegendsten Szenen des Films ist Aslı Erdoğan per Videocall aus ihrer Wohnung in Frankfurt mit Adar Bozbay und Erdoğans Mutter in Istanbul verbunden. Gemeinsam suchen die beiden Frauen in Erdoğans Arbeitszimmer nach literarischen Zeugnissen von Erdoğans Lebens in der Türkei: Sie sind essentiell für die Schriftstellerin, um ihr neues Leben im Exil in Deutschland ertragen zu können. Wie viel Stärke Aslı Erdoğan in diesen Szenen, in denen sie deutlich erkennbar von den Folgen ihrer Autoimmunkrankheit gezeichnet ist, beweist, lässt trotz allem Leid und aller Verzweiflung ein Stück Hoffnung aufkeimen. Hoffnung darauf, dass Worte stärker sind als Propaganda, Lügen, Verleumdung und Hetze. Und die große Hoffnung darauf, dass Aslı Erdoğan irgendwann als freier Mensch in die Türkei zurückkehren und dort in Frieden leben kann. Bis es soweit ist, bleiben ihr nur die Treffen mit ihrer Mutter in Griechenland, wo die türkische Grenze zum Greifen nah ist.
Bis 10. April ist „Bitmemiş Cümleler / Incomplete Sentences“ auf der Website der türkischen Filmstage zu sehen:
https://tuerkischefilmtage.de/incomplete-sentences/
Ein Online-Einzelticket kostet € 5,-.
Der Online-Festivalpass (gültig für alle Filme des Programms) kostet € 25,-.