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Allgemein Filmgeflüster

Blickwechsel

Noch bis zum 02.05.2021 finden die erste digitale Ausgabe der Türkischen Filmtage München statt. Die Festivalmacher bieten ihrem Publikum ein bemerkenswertes, äußerst vielfältiges Programm aus Kurz- und Langspielfilmen, das den aktuellen türkischen Film in seiner ganzen Bandbreite zeigt. Drei Kurzkritiken zu drei Filmen, die ich besonders bemerkenswert finde.

1. KROMOZOM KARDEŞLER – CHROMOSOME BROTHERS

Kromozom Kardeşler – Chromosome Brothers ist mein absolutes Highlight in diesem Festivalprogramm. Der Regisseur Hasan Kalender begleitet in seinem Dokumentarfilm drei Männer mit Down-Syndrom, denen es durch viel Ehrgeiz und durch die Unterstützung ihrer Familien gelungen ist, außergewöhnliche Lebenswege einzuschlagen: Während sich der 27-jährige Hasan Gökhan Kotan im Film als Schwimmer in der türkischen Nationalmannschaft auf die Paralympics vorbereitet und sein Können an Kinder weitergibt, hat es der 22-jährige Deniz Özkan geschafft, sich als Schauspieler zu etablieren. Der 41 Jahre alte Schuhputzer Remzi Kahraman betreibt nicht nur seinen Job mit äußerster Akribie, sondern übernimmt mit einer bemerkenswerten Hingabe und Aufopferungsbereitschaft die Pflege seiner blinden Mutter.

In ruhigen, langsamen Einstelllungen nimmt Kromozom Kardeşler – Chromosome Brothers den Zuschauer mit auf die Reise in die Welt von drei Männern, die die Welt um sich herum aus einer sehr aufgeschlossenen und stets dem Menschen zugewandten Perspektive betrachten. Die große Stärke dieses Dokumentarfilms besteht darin, dass der Regisseur Hasan Kalender seinen Protagonisten Hasan Gökhan Kotan, Deniz Özkan und Remzi Kahraman den Raum gibt, der nötig ist, damit sie ihr ganzes Potential vor der Kamera entfalten können. Beeindruckend sind neben den Interviews mit den Protagonisten dieses mit sehr viel Sensibilität gedrehten Films auch die Gespräche mit Eltern der drei Männer, die die Behinderung ihrer Kinder nie als Last, sondern als Chance angesehen haben, ihren eigenen Horizont durch ihre Söhne zu erweitern. Es wäre sehr zu wünschen, dass es dieses filmische Juwel in Zeiten zunehmender Diskussionen über Pränataldiagnostik über die Türkischen Filmtage hinaus ein großes Publikum erreicht. Denn Kromozom Kardeşler – Chromosome Brothers ist vor allem eines: Ein buntes Kaleidoskop an Möglichkeiten, die Welt wahrzunehmen und sie zu gestalten.

Dokumentarfilm | 2019 | Türkei | 77’ |

Regie: Hasan Kalender | Mitwirkende: Hasan Gökhan Kotan, Remzi Kahraman, Deniz Özkan

https://tuerkischefilmtage.de/chromosome-brothers/


2. LA BELLE INDIFFÉRENCE

Wenn eigene Chef plötzlich mit einem überdimensionalen Zebrakopf vor einem sitzt, man im Wald Bäume umarmt und sich nicht sicher ist, ob der mahnende Fremde um einen herum nicht in Wahrheit eine Fata Morgana ist, dann ist die Realität längst zu einer Traumwelt geworden.

Als Onur unerwartet seinen gut bezahlten Job in der Pharmaindustrie verliert, wird das Leben von ihm und seiner Partnerin Bahar auf eine harte Probe gestellt. Denn plötzlich wissen sei nicht, ob sie den Kredit für ihr Haus in einer luxuriöseren Gegend von Istanbul abbezahlen können – über diese und andere Fragen in Bezug auf ihre materielle Unsicherheit gerät ihre gesamte Ehe ins Wanken. Der Regisseur Kıvanç Sezer hat seinen Spielfilm La Belle Indifférence als Tragikkomödie in Episodenform angelegt. Ihn interessiert vor allem die Frage, was eine Beziehung zweier Menschen im Innersten zusammenhält – und ab welchem Punkt die unausgesprochenen Konflikte zwischen einem Paar in handfeste Streitigkeiten münden.

Im Gegensatz zu vielen Dramen, die Themen wie den Verlust des eigenen Jobs, Liebe, Sexualität und Freundschaft behandeln, atmet La Belle Indifférence die Leichtigkeit italienischer Filmkomödien: Kıvanç Sezer studierte an der Cineteca di Bologna Filmschnitt, bevor er in die Türkei zurückkehrte und dort im Bereich Fernsehen und Kino arbeitete. La Belle Indifférence wird getragen von einer wohltuenden Prise absurdem Humor und zeigt auf eindrucksvolle Art und Weise, wie nahe Tragik und Komik im Leben oft beieinander liegen. Dabei verschweigt La Belle Indifférence nicht, wie hinter all dem Druck, gesellschaftliche Normen und Konventionen zu erfüllen, die Gefahr wächst, dass sich ein Paar im Umgang miteinander von seinen eigenen Prinzipien entfernt und dabei Gefahr läuft, physische und psychische Gewalt gegeneinander auszuüben.

© Türkische Filmtage München

Drama / Komödie | 2019 | Türkei | 94’

Regie: Kıvanç Sezer | Darsteller: Alican Yücesoy, Başak Özcan, Bülent Emrah Parlak, Müfit Kayacan, Ece Dizdar

https://tuerkischefilmtage.de/la-belle-indifference/


3. HOST

Mit den Augen einer Katze blickt die Regisseurin Olcay Seda Özaltan in ihrem 23-minütigen, dokumentarisch anmutenden Kurzfilm Host auf das Schicksal tausender Frauen, die in Pandemiezeiten auf der Flucht vor häuslicher Gewalt Zuflucht in einem Haus finden. Özaltan, die in ihrem Film auch die Hauptrolle übernommen hat, drehte Host auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr. Nur über das Telefon hält die Protagonistin ab und zu den Kotakt zu draußen.

Aus sicherer Distanz beobachtet die Katze zunächst ihre neue Mitbewohnerin – neutral und unvoreingenommen tritt sie der jungen Frau mit dem blau unterlaufenen Auge gegenüber. So sicher man die Frau in dieser Umgebung weiß: Die schnellen Schnitte des Films, die sich an dem Bewegungstempo der Katze orientieren, vermitteln den Zuschauer*innen ein Gefühl der inneren Unruhe und der Angst davor, dass der gewalttätige Mann sie in jeder Sekunde in ihren vier Wänden aufspüren könne.

Als plötzlich eine fremde weiße Katze wie aus dem Nichts vor dem Fenster der Wohnung auftaucht, begreift man, wie real die Gefahr für die Opfer häuslicher Gewalt in einer Zeit wie dieser ist. Die sanfte Annäherung der Katze im Film an ihre temporäre Mitbewohnerin ist ein leiser Hoffnungsschimmer in einer Gesellschaft, in der die Rechte von Frauen durch die Ankündigung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, aus der Instanbul-Konvention auszutreten, in Zukunft massiv eingeschränkt werden sollen. Ein starkes Plädoyer gegen jegliche Form von Gewalt gegenüber Frauen.


Mehr Informationen über die Türkischen Filmtage München: 

Die 32. Türkischen Filmtage finden in diesem Jahr online in ganz Deutschland statt. Präsentiert wird ein vielfältiges und anspruchsvolles Programm mit 12 Spiel- und Dokumentarfilmen und 15 Kurzfilmen aus der Türkei oder von türkischstämmigen Regisseur*innen aus Deutschland. Die beiden Kurzfilmprogramme Frauenblicke und Queer Panorama legen einen besonderen Fokus auf gesellschaftliche Gruppen, die um Gleichberechtigung und Anerkennung ringen.

https://tuerkischefilmtage.de/festival/

Festivalpass: 25€

Die Filme können über die Webseite www.tuerkischefilmtage.de gestreamt werden und stehen bis 2.5. jederzeit 24 Stunden lang nach Filmstart zur Verfügung. Tickets für die einzelnen Filme sowie der Festivalpass können direkt über die Website der Türkischen Filmtage München erworben werden.

Facebook @TuerkischeFilmtageMuenchen, Instagram @tuerkischefilmtage

 

 

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