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Der Ruf der Freiheit

„Liberty Suspended“: So heißt das neue Werk des Street Art-Künstlers LAPIZ, das im April 2020 im Hamburger Stadtteil Sankt Pauli zu sehen war. Ein paar Gedanken von LAPIZ und mir zum Thema Freiheit in den Zeiten der Corona-Krise.

Auf einem Plakatständer in Sankt Pauli, wo dem Betrachter normalerweise Wahlkampf-motivierte Politiker entgegen lächeln, fiel der Blick im April 2020 auf eine in Flatterband gehüllte amerikanische Freiheitsstatue. Der Street Art-Künstler LAPIZ hatte sie über das deutsche Grundgesetz gemalt und diejenigen Artikel durchgestrichen, die vor einigen Monaten aufgrund der Corona-Krise außer Gefecht gesetzt worden waren.

„Vorübergehend‘: Das Wort des Jahres. ‚Vorübergehend werden wir unser Leben umstellen müssen‘, ‚vorübergehend‘ ist der Flugverkehr eingestellt‘. Aber was heißt das? Die Flieger bleiben schließlich nicht am Boden, weil wir angesichts von Fridays For Future ein grünes Gewissen entwickelt haben – sondern weil sie aufgrund der Coronakrise nicht abheben dürfen. Die Grenzen sind dicht, unsere Reisefreiheit aufgehoben, das so geschätzte Recht auf Freizügigkeit (Art. 11 GG), das es jedem Mann und jeder Frau gestattet, sich überall in Deutschland aufzuhalten, wurde einfach außer Kraft gesetzt. Wir sollen vorübergehend die soziale Distanz waren und drinnen bleiben. Wohin sollen wir auch gehen, wenn der Art. 5 GG – die Freiheit der Kunst nicht mehr gilt, alle Museen, Theater und Kulturstätten geschlossen bleiben und somit als unnütz erklärt werden. Was vor kurzem noch Grundrechte waren, ist nun eine Ordnungswidrigkeit – der freie Mensch ein Krimineller, die Freiheit selbst nicht systemrelevant“, schrieb LAPIZ im April über sein neuestes Kunstwerk „Liberty Supended“.

„Ich habe Miss Liberty gewählt, weil sie ganz allgemein als Repräsentantin für Freiheit gesehen wird. Viel wichtiger finde ich aber das Flatterband, das zu einem Symbol der persönlichen Einschränkung geworden ist und die individuelle Freiheit behindert. Und dann ist da noch die Flamme, beziehungsweise die nicht vorhandene. Sie steht eigentlich für Fortschritt, den ich aber ich nicht sehen kann, wenn Grundrechte einfach auf unbestimmte Zeit ausser Kraft gesetzt werden können“.

LAPIZ erzählt mir, dass zwei Herzen in seiner Brust schlagen: Als Virologe und Immunologe steht es für ihn außer Frage, dass in einer Krise wie dieser gewisse Einschränkungen seitens der Politik notwendig sind. Zum anderen sei er aber auch ein freier Bürger, den die Schnelligkeit, mit der viele Grundrechte quasi über Nacht außer Kraft gesetzt wurden, beunruhigt.

LAPIZ hat bereits viel von der Welt gesehen: Das Malen brachte sich der Street Artist in den Straßen der neuseeländischen Stadt Dunedin selbst bei. In Afrika arbeitete er als Wissenschaftler in der Aidsforschung und verarbeitete seine Erfahrungen durch künstlerische Statements im öffentlichen Raum. In Argentinien eignete er sich schließlich die großflächige Stencilkunst an. Was bedeutet Freiheit für ihn und für mich in außergewöhnlichen Zeiten wie diesen?

ÄUßERE VS. INNERE FREIHEIT

Nachdem ich in den vergangenen Wochen mit großem Erstaunen die vielen Corona-Proteste beobachtet habe, frage ich mich, ob man tatsächlich innerlich unfrei ist, wenn die äußere Freiheit vorübergehend zum Schutze anderer Menschen eingeschränkt wird.

„Was bringt mir die Freiheit meiner Gedanken, wenn ich sie nicht nach außen tragen kann?“, fragt LAPIZ. „Im Grunde ist es die alte Frage nach Sicherheit oder Freiheit. Ich bevorzuge die Freiheit, weil es die Sicherheit meiner Meinung nach nicht gibt“.

Die von der deutschen Regierung und den einzelnen Bundesländern getroffenen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie habe ich selbst nie als Einschränkung meiner individuellen Freiheit gesehen, weil ich sie nicht als unverhältnismäßig empfand. LAPIZ ist in diesem Punkt um einiges kritischer: „Mich verwundert, wie schnell hier im Fall von Corona Entscheidungen getroffen wurden. Bei anderen Themen heißt es oft: ‚Die Politik braucht Zeit‘ – man denke zum Beispiel an den Kohleausstieg. Nun erfolgte quasi über Nacht der Lockdown. Was mir zu denken gibt, ist, dass dieser ‚temporäre‘ Zustand, der theoretisch auf einen ewig langen und nicht durch ein Parlament kontrollierbaren Zeitraum ausgedehnt werden könnte“.

Fakt ist tatsächlich, dass es der § 28 (1) des Infektionsschutzgesetzes Behörden in Deutschland erlaubt, Notwendiges tun, soweit und solange es dabei hilft, die Verbreitung einer Krankheit zu verhindern. Und tatsächlich sind es nicht wenige Grundrechte, die in der Coronakrise außer Kraft gesetzt wurden: So zum Beispiel das Recht auf Freizügigkeit (Art. 11), das Recht auf Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2), die Freiheit der Person (Art.2), die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13) oder das Recht auf Berufsfreiheit (Art. 12).

Für mich steht trotz der gebotenen Wachsamkeit gegenüber der Regierung außer Frage, dass in der Zeit einer Pandemie alles dafür getan werden sollte, um das Risiko der Ausbreitung einer Krankheit zu minimieren. Ich versuche mich in die Lage eines Politikers oder einer Politikerin zu versetzen, die einen Ausgleich zwischen allen Interessengruppen finden und dabei auch noch dafür sorgen müssen, dass es nicht zu einem wirtschaftlichen Kollaps in Deutschland kommt. Erschwert wird ihre Handlungsfähigkeit durch die Tatsache, dass es keinerlei Erfahrung mit einem derartigen Virus gibt und daher die Erfolge bestimmter Maßnahmen nicht voraussehbar sind. Dass die bisherigen Erfolge im Umgang mit dem Virus im Ausland bewundert und beneidet werden, im Inland aber oft schwer nachzuvollziehender Kritik ausgesetzt sind, stellt Politiker wie Wissenschaftler vor große Herausforderungen.

Ich bin mir nicht sicher, ob unser Wunsch nach Freiheit wirklich authentisch oder in vielen Fällen von äußeren Faktoren beeinflusst ist. „Er muss von Innen heraus kommen und ist meiner Meinung nach nicht käuflich“, meinte LAPIZ. „Ich denke, dass viel Menschen aus sich selbst heraus einen Antrieb verspüren, sich für ihre eigene Freiheit einzusetzen: Meinungsfreiheit, Berufsfreiheit, Bewegungs- und Versammlungsfreiheit sind Grundrechte, für die Menschen lange gekämpft haben und gestorben sind. Diese dürfen nicht peu à peu verschwinden und zu Ordnungswidrigkeiten erklärt werden“.


DEMONSTRATIONSFREIHEIT

„Natürlich sind die Verschwörungstheoretiker, Wutbürger und Nazis bekloppt – aber sie müssen die Möglichkeit haben, zu demonstrieren. Das ist es, was eine Demokratie ausmacht. Ich finde auch das Argument der Gefährdung fadenscheinig: Wir machen viele Dinge, die nicht gut für die Gesundheit sind und wo uns unsere Freiheit wichtiger ist, als das Wohl anderer: Zigaretten rauchen, ohne Tempolimit auf der Autobahn fahren und so weiter“.

Wie LAPIZ bin ich der Meinung, dass das Demonstrationsrecht zu einem der zentralen Grundrechte in einer Demokratie zählt. „Wenn kleine Demos, auf denen man sich an die Hygienebestimmungen hält, mit dem Hinweis auf die Corona-Gefährdung abgesagt werden, dann ist das Quatsch und verfassungswidrig“, sagt LAPIZ. Doch die Erfahrungen zeigen, dass vieler dieser Zusammenkünfte nach kürzester Zeit in Massenevents ausarten. Mit einem gesellschaftlichen Bewusstsein, dass die Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit in den vergangenen Monaten außer Kraft gesetzt wurden, hat der Protest gegen die Einschränkungen in der Corona-Krise nur teilweise zu tun. Verschwörungstheoretiker und politisch extreme Gruppierungen nutzen und mißbrauchen die Demonstrationen, um den Staat als solchen zu diskreditieren. Mit Sicherheit sind unter den tausenden Demonstranten auch viele, denen es um den Schutz der eigenen Freiheit geht. Doch die Aluhut-Träger und die Verteidiger des Rechts auf Vergnügen drücken ihren Unmut meistens lauter und stärker aus. Woher kommt diese Unzufriedenheit mit einem politischen System, das uns in der Krise vor überfüllten Krankenhäusern und vor einem echten Lockdown bewahrt hat? Politik ist kein Wunschkonzert, vor allem nicht momentan. Und Politiker sind keine Heilsbringer oder Engel, sondern im besten Falle kluge und abwägende Strategen. Im schlechtesten Fall unterdrücken sie ihr Volk und nutzen das Coronavirus, um ihre Macht noch weiter zu festigen – von diesen Zuständen sind wir Deutschland glücklicherweise weit entfernt. Das entbindet uns nicht von unserer Pflicht, in dieser Krise wachsam, reflektiert, diskussionsfreudig und kritisch bezüglich den von der Politik ergriffenen Maßnahmen zu bleiben.


DIE FREIHEIT DES KÜNSTLERS

Ich frage mich schon seit jeher, inwiefern man sich als freier Künstler ohne regelmäßiges, sicheres Einkommen tatsächlich frei fühlen kann. „Als Künstler nagt man nicht automatisch am Hungertuch und macht brotlose Kunst“, meint LAPIZ. „Wie alle Selbstständigen ist man auf sich alleine gestellt und hat vielleicht nicht so ein ausgeprägtes Sicherheitsdenken, da die Selbstverwirklichung – also die persönliche Freiheit – im Vordergrund steht. Ich frage mich eher, wie es sich momentan für die „systemrelevanten“ Kurzarbeiter anfühlt, die ihr Sicherheitsdenken über den Wunsch nach der eigenen Weiterentwicklung gestellt haben. Was machen sie jetzt, wo es keine Sicherheit mehr gibt?“

Ich stelle tatsächlich fest, dass sich die meisten Künstler um mich herum trotz ihrer oft dramatischen Umsatzeinbußen sehr gut an die jetzige Situation angepasst haben. „Für mich hat sich nicht so viel verändert. Ich kann gerade nicht die großen Wände auf Festivals bemalen, aber dafür habe ich Zeit mich im Studio auf Originale, Drucke und Experimente zu konzentrieren“. Für LAPIZ bedeuten die Einschränkungen im Kunst- und Kulturbetrieb vor allem einen Verlust des Mitspracherechts und der Möglichkeit, Kritik am Staat zu üben. „Darüber hinaus ist die Berufsfreiheit von Künstlern eingeschränkt, da Gallerien, Festivals, Museen etc. wichtige Veranstaltungen für sie sind, um ihre Netzwerke aufzubauen und aufrecht zu erhalten“.

Ich betrachte die momentanen Hygienebestimmungen, unter denen die Theater, Museen, Kinos und Opernhäuser ihre Türen langsam wieder öffnen können, zwar ebenfalls als einen Eingriff in die Berufsfreiheit der Künstlerinnen und Künstlern an. Doch angesichts der Tatsache, dass die Ansteckungsgefahr in geschlossenen Räumen am größten ist, sehe ich keine andere Möglichkeit, um derzeit gemeinsam mit anderen Menschen Kunst und Kultur zu erleben.

Freiheit = Verantwortung

„Freiheit bedeutet für mich die Möglichkeit, mich auszudrücken und in eine andere Richtung gehen zu können, als diejenige, die als „normal“ bezeichnet wird – ohne dafür Repressalien fürchten zu müssen“, sagt LAPIZ.

Genau das bedeutet Freiheit auch für mich. Gerade in der Coronakrise habe ich es wieder zu schätzen gelernt, dass ich in einer funktionierenden Demokratie leben und meine Meinung frei äußern darf.

„Die Freiheit wird immer durch die Unfreiheit meiner Umwelt eingeschränkt. Wenn mein Handeln andere einschränkt, dann bin auch ich nicht mehr frei. Das schließt eine Verantwortung für das eigene Handeln mit ein und ich muss abwägen, wieviel Freiheit ich mir und meiner Umgebung zustehen soll“.

LAPIZ‘ und mein Verständnis von Freiheit schließt sich an das von Immanuel Kant (1724–1804) an: Der Philosoph ging davon aus, dass ein Mensch unfrei handelt, wenn er oder sie ausschließlich seinen oder ihren spontanen Antrieben folgt. Freiheit bedeutete für ihn nicht einfach, das zu tun, was man will, sondern auch jenen Regeln und Verpflichtungen zu folgen, die man sich durch die eigene Vernunft selbst gesetzt haben. Handeln aus Freiheit ist für Kant also gleichbeutend mit dem Handeln aus vernünftiger Einsicht.

Selbstverantwortung, Rücksichtnahme, Solidarität: Über diese Grundwerte einer demokratischen, gerechten und sozialen Gesellschaft wurde in den vergangenen Wochen und Monaten viel geschrieben und diskutiert. Soeben hat eine Studie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ergeben, dass der vielbeschworene Kollektivgedanke letztendlich nur von sehr kurzer Dauer war. Denn vor allem die junge Generation realisiert nun, was die Coronakrise wirtschaftlich für sie bedeutet. Bei allem Verständnis für ihre wahrlich existenziellen Sorgen erschrecken mich der Egoismus und die Selbstzentriertheit vieler Teenager, aber auch vieler Frauen und Männer in meinem Alter, wenn sie sehr locker mit der Einhaltung der gebotenen Maßnahmen umgehen. Ihr Verhalten ist es letztendlich, das die Regierung dazu veranlasst, Freiheiten auch weiterhin einzuschränken. Es sollte uns wichtig sein, weiterhin Vorsicht walten zu lassen und gelegentlich die eigenen Bedürfnisse zum Wohle der Allgemeinheit hinten anzustellen.

Lieber Lapiz, ich danke dir für den sehr offenen Austausch, den wir seit einigen Monaten per Mail pflegen! Alles Gute für dich und für deine Kunst in dieser herausfordernden Zeit!


Weitere Informationen über den Künstler:

http://lapiz.ca/

Instagram @lapizgraffiti

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