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Vergangenheit und Zukunft

80 Jahre nach der Errichtung des Ghettos Theresienstadt fand von 17.-19. August 2021 die vom Terezín Composers’ Institute organisierte „Summer School Terezín“ für Studierende der Hochschule für Musik und Tanz Köln und der Masaryk Universität Brünn in Theresienstadt statt. Dabei beschäftigten sich die jungen Musikstudentinnen und -studenten in Vorträgen, Gesprächen und Konzerten intensiv mit dem schöpferischen Werk von Künstlerinnen und Künstler, die während der NS-Zeit verfolgt wurden. Die Summer School ist Teil des auf vier Jahre angelegten tschechisch-deutschen Kulturprojekts „Musica non grata“: Seit dem vergangenen Jahr lenkt es den Fokus auf die Musik tschechischer und deutscher Komponistinnen und Komponisten, die von den 1910er- bis 1930er-Jahren in Prag wirkten und ab dem Ende der 1930er Jahre der Willkür des NS-Regimes ausgesetzt waren.

Ein Rückblick auf eine sehr spannende Reise an einen Ort, an dem Mitte 2021 ein neuer Blick auf die einst verfemten Künstlerinnen und Künstler geworfen wurde. #Pressereise #Einladung

Wiegala

Wiegala, wiegala, weier,
Der Wind spielt auf der Leier.
Er spielt so süß im grünen Ried,
die Nachtigall, die singt ihr Lied.
Wiegala, wiegala, weier,
der Wind spielt auf der Leier.

Wiegala, wiegala werne,
Der Mond ist die Laterne,
er steht am dunklen Himmelszelt
und schaut hernieder auf die Welt.
Wiegala, wiegala, werne,
der Mond ist die Laterne.

Wiegala, wiegala, wille,
wie ist die Welt so stille.
Es stört kein Laut die süße Ruh,
schlaf, mein Kindchen, schlaf auch du.
Wiegala, wiegala, wille,
wie ist die Welt so stille.

Ilse Weber

Es war ein Lied voller Liebe und Wärme, das im Rahmen der „Summer School Terezín“ im Wieserschen Haus erklang. In diesem Gebäude, wo in den 1940er Jahre die  Gendarmerie der Stadt untergebracht war, triumphierte nun die Musik über Vertreibung, Unterdrückung, Folter und Tod. Als die Sopranistin Anna Graf „Wiegala“ sang – ein Wiegenlied, das die tschechische Komponistin, Lyrikerin, Hör- und Kinderbuchautorin Ilse Weber 1942 im Ghetto Theresienstadt schrieb – hatte meine Reise nach Tschechien einen ihrer vorläufigen Höhepunkte erreicht. Weber meldete sich 1944 freiwillig, als die Kinderkrankenstube, auf der sie als Krankenschwester arbeitete, für die Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau bestimmt wurde. Ihr Sohn Tomáš, die anderen Kinder und sie wurden gleich nach ihrer Ankunft am 6. Oktober 1944 in Auschwitz ermordet. Auf dem Weg zur Gaskammer soll die Schriftstellerin und Komponistin „Wiegala“ gesungen haben, um ihre Schützlinge zu beruhigen.

Als wir am Abend des 17. August 2021 in Theresienstadt eintrafen, zeigte sich die rund 65 km von Prag entfernte Kleinstadt trotz des bewölkten Himmels von ihrer freundlichen Seite: Das Wiesersche Haus, in dem die Konzerte während der „Summer School Terezín“ stattfanden, ist gerade frisch renoviert worden. Ein prächtiger, imposanter Bau – von außen, wie von innen.

Das erste Konzert der Studentinnen und Studenten der Hochschule für Musik und Tanz Köln begann mit einer virtuosen Interpretation der Dubnová preludia, Op.13 (April-Préludes) für Klavier von Vítezslava Kaprálová durch die Pianistin YiRou Ariel Chen. Die tschechische Komponistin und Dirigentin, die 1939 nach der Besetzung der damaligen Tschechoslowakei durch die Wehrmacht ins Exil nach Paris ging, starb nur ein ein Jahr später im Alter mit gerade einmal 25 Jahren. Knapp 60 Werke, die inspiriert waren von der Spätromantik, dem Jazz, der Avantgarde und der Folklore ihrer tschechischen Heimat, hat Kaprálová der Nachwelt hinterlassen, darunter Musik für Chor, Orchester, Kammermusik und Klavier und viele Lieder. Man spürte die Energie der Komponistin im Raum, als die 19 Jahre alte Pianistin YiRou Ariel Chen Kaprálovás April-Préludes spielt: Ein kraftvolles Stück, das von Aufbruch und Veränderung, aber auch von Schmerz und Leid erzählt.

Sechs Studentinnen und Studenten aus Köln und dem Außenstandort der Hochschule für Musik und Tanz in Wuppertal waren Mitte August nach Theresienstadt gereist, um sich drei Tage lang mit dem Œuvre von Komponistinnen und Komponisten, deren Musik während der Zeit des Nationalsozialismus als unerwünscht galt, zu beschäftigen. Eine einmalige Erfahrung für die Klarinettistin Theresa Ströbele, den Pianisten Alexander Breitenbach, den Bratschisten Weichueh Chen, die Geigerin Seowon Kim, die Pianistin YiRou Ariel Chen und die Sängerin Anna Graf, die an diesem historisch bedeutenden Ort einen entscheidenden Beitrag zur Festigung der deutsch-tschechischen Beziehungen leisteten. Wenige Woche zuvor erst hatten die Studentinnen und Studenten von der Möglichkeit, an der „Summer School Terezín“ teilzunehmen, erfahren: Denn aufgrund der Corona-Pandemie mussten die Planungen für das deutsch-tschechische Projekt sehr kurzfristig stattfinden. Dass es innerhalb von nur wenigen Wochen gelingen konnte, aus einer Gruppe von Musikerinnen und Musikern, die sich in unterschiedlichen Phasen ihrer Hochschulausbildung befinden, ein derart herausragendes musikalisches Ensemble zu formen, liegt vor allem an dem Engagement der Pianistin und Professorin Dr. Florence Millet. Seit 2010 ist die international tätige Konzertpianistin künstlerische Beraterin der Stiftung Lichterfeld und engagiert sich im Rahmen des Projekts „Echospore“ der Hochschule für Musik und Tanz Köln für die Wiederentdeckung ins Exil vertriebener oder verfolgter Komponistinnen und Komponisten sowie für die Aufbereitung ihrer Werke. Begleitet wurde Florence Millet, die man in Terezín immer wieder auch selbst am Piano erleben durfte, auf ihrer Reise nach Terezín von der Cellistin Jeanette Gier-Monger. Die leidenschaftliche Kammermusikerin, mit der ich während den Tagen in Terezín und Prag immer wieder ins Gespräch kam, unterrichtet neben ihrer regen Konzerttätigkeit als Lehrbeauftragte an der HfMT in Köln.

Seowon Kim, Jeanette Gier-Monger, Weichueh Chen und Florence Millet auf der Bühne des Wieserschen Hauses in Terezín

Während die Studentinnen und Studenten aus Köln zwei von drei Konzerten in Theresienstadt sowie das Abschlusskonzert der Summer School in der Deutschen Botschaft in Prag gestalteten, beschäftigten sich ihre Kolleginnen und Kollegen aus Brünn inhaltlich mit den Werken der während der NS-Zeit verfolgten Künstlerinnen und Künstler und stellten die Ergebnisse ihrer Nachforschungen am 17. August im Rahmen einer Konferenz vor.

Die Summer School ist Teil des auf vier Jahre angelegten, internationalen Projekts „Musica non grata“ der Oper des Nationaltheaters Prag, der Prager Staatsoper und des Auswärtigen Amts der Bundesrepublik Deutschland, mit dem 75 Jahre nach Kriegsende eine neue Form der Erinnerungskultur etabliert wird. Zwischen 2020 und 2024 steht im Rahmen von „Musica non grata“ die Musik von tschechischen und deutschen, aber vor allem von jüdischen Komponistinnen und Komponisten, die von den 1910er- bis 1930er-Jahren in Prag wirkten und durch das NS-Regime verfolgt wurden, im Vordergrund. Nicht nur die Werke von Komponisten wie Pavel Haas, Hans Krása, Gideon Klein und Viktor Ullmann, die vor ihrer Deportation in die Vernichtungslager in Theresienstadt leben mussten, werden in den kommenden Jahren auf den Prager Konzertbühnen zu hören sein, sondern auch die Kompositionen von nicht-jüdischen Musikerinnen und Musikern, die wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit, ihrer politischen und künstlerischen Ansichten oder wegen ihrer aktiven Mitgliedschaft in Organisationen des Widerstands in Konflikt mit dem totalitären NS-Regime geraten waren – unter ihnen Franz Schreker, Erwin Schulhoff oder Alexander Zemlinsky. Einen weiteren Schwerpunkt legt das Projekt auf die Erforschung der reichen jüdischen Musikkultur Prags und auf die Musik und Lebenswege von außergewöhnlichen Komponistinnen wie Ludmila Peškařová, Vítězslava Kaprálová, Emma Destinová oder Geraldine Mucha.

Bei der Summer School in Terezín standen im August 2020 unter anderem die Werke von Komponisten wie Viktor Ullmann, Gideon Klein, Hans Krása, Pavel Haas und Erwin Schulhoff auf dem Programm, die allen Elend zum Trotz eine unglaubliche Produktivität während ihrer Zeit im Theresienstädter Ghetto an den Tag legten. Auch die Werke jüdischer Komponistinnen und Komponisten wie Mieczyslaw Weinberg, Alexander Zemlinsky, Maria Herz oder Vítězslava Kaprálová erklangen während der Summer School-Tage im Wiesener Haus. Ein vielfältiges, spannendes Programm, das von Prof. Dr. Lubomír Spurný von der Masaryk Universität, dem Musikwissenschaftler Dr. Kai Hinrich Müller und Prof. Dr. Florence Millet gestaltet wurde.

Am ersten Abend in Terezín überwältigten mich die Stücke von Pavel Haas, Viktor Ullmann, Gideon Klein und Alexander Zemlinsky im Wieserschen Haus in einer Art und Weise, wie ich sie aus vorherigen Konzerterlebnissen nicht kannte. Kleins Streichtrio aus dem Jahre 1944 hinterließ aufgrund seiner perkussiven Rhythmik einen besonders starken Eindruck auf mich. „Zu betonen ist, dass ich in meiner musikalischen Arbeit durch Theresienstadt gefördert und nicht gehemmt worden bin, dass wir keineswegs bloß klagend an Babylons Flüssen saßen und dass unser Kunstwille unserem Lebenswillen adäquat war“, sagte der Komponist, der den dritten Satz seines Streichtrios wenige Tage vor der Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau vervollständigte.

Es ist verblüffend, wie viel Lebenslust und Humor in den Werken der Theresienstädter Komponisten steckte, über denen täglich das Damoklesschwert der nahenden Deportation schwebte. 80 Jahre ist es her, seit die Nationalsozialisten 1941 nach der „Erledigung der Rest-Tschechei“ im Jahre 1939 und der Errichtung des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren Theresienstadt – einen Garnisonsstandort aus der Zeit Kaiser Josephs II. – in ein Sammel- und Durchgangslager umfunktionierten, in dem man zunächst tschechische und später auch deutsche Juden unterbrachte. Der Weltöffentlichkeit präsentierte die SS Theresienstadt als „Musterlager“: Tatsächlich aber war dieser Ort eine Art Vorhof zur Hölle. Denn von der nordböhmischen Stadt aus ging es für die meisten der Bewohner in die Vernichtungslager der Nationalsozialisten wie Auschwitz-Birkenau. Zwischen November 1941 und dem Untergang des „Dritten Reichs“ 1945 wurden mehr als 140.000 Menschen in Theresienstadt gefangen gehalten. 88.000 von ihnen deportierte man in verschiedene Konzentrationslager, 33.000 starben im Ghetto an Unterernährung und den katastrophalen hygienischen Zuständen. Weniger als 20.000 der Bewohnerinnen und Bewohner Terezíns überlebten die Herrschaft der Nationalsozialisten.

Um nach außen hin den Schein zu wahren, dass Jüdinnen und Juden unter würdevollen Bedingungen in der Stadt leben konnten, etablierte man das Ghetto Theresienstadt als Kunst- und Kulturort, an dem auf legalem Wege Konzerte oder Lesungen stattfinden konnten. Als sich im Juni 1944 eine Delegation des Internationalen Roten Kreuzes in Terezín ankündigte, ließ die Lagerleitung sogar die Fassaden tünchen, fiktive Geschäfte, ein Kaffeehaus und eine Bank bauen. Wenige Wochen später wurde der Regisseur und Schauspieler Kurt Gerron dazu gezwungen, einen Propagandafilm über das Ghetto Theresienstadt zu drehen, der unter dem Titel „Der Führer schenkt den Juden eine Stadt“ bekannt wurde. Man zeigte die Bewohnerinnen und Bewohner des Ghettos bei Handwerksarbeiten und verschiedenen Freizeitaktivitäten – zynischerweise inszenierte man sogar ein Fußballspiel, um nach außen hin die heile Lagerwelt zu beschwören. Fast alle Frauen, Männer und Kinder, die in dem Film mitspielten, wurden direkt nach Beendigung der Dreharbeiten gemeinsam mit 18.000 anderen Jüdinnen und Juden nach Auschwitz deportiert.

Unterwegs in Terezín

Heute, 75 Jahre nach Kriegsende, ist Terezín vor allem eines: Ein kleiner Ort, der mit seinem Erbe kämpft und dessen historischen Gebäude aufgrund mangelnder finanzieller Ressourcen mehr und mehr zu verfallen drohen. Nach dem Abzug des Militärs Ende der 1990er Jahre wurde die Garnison geschlossen und Terezín verlor drei Viertel seiner Einwohnerinnen und Einwohner. Rund 2.000 Menschen leben heute in der Stadt: Ein Großteil der Einwohnerinnen und Einwohner, denen wir in den Straßen und in den wenigen Cafés der Stadt begegnen, haben körperliche oder geistige Einschränkungen. Die Entscheidung, sie ausgerechnet hier anzusiedeln, mutet angesichts der Tatsache, dass hier einst sehr viele als unerwünscht innerhalb der Gesellschaft geltende Menschen abgeschirmt von der Außenwelt leben mussten, sehr befremdlich an.

Für die Tschechen selbst ist das, was in Terezín während den Jahren der NS-Diktatur geschah, vor allem ein Stück deutscher Geschichte. Es ist eine Mammutaufgabe, aus einer Stadt, in der jedes Haus und jeder Platz Teil des ehemaligen Ghettos war, eine lebenswerte Umgebung für die heute in diesem Ort lebenden Bewohnerinnen und Bewohner zu schaffen und gleichzeitig das historische Erbe der Stadt zu bewahren. Zwar gibt es viele Fördertöpfe, doch der Eigenanteil, den die Terezín bringen soll, überfordert die Stadtverwaltung: Gerade einmal 200.000€ stehen jährlich im Haushalt für sämtliche Reparaturarbeiten innerhalb des Ortes zur Verfügung.

Das fehlende Geld für die Entwicklung eines Konzepts, das der Parallelität von Vergangenheit und Moderne in Terezín Rechnung trägt, lässt den Ort an vielen Stellen wie einen kuriosen architektonischen Flickenteppich erscheinen: Von den Räumen der Hochschule für angewandte Psychologie blickt man beispielsweise auf eines der baufälligsten Gebäude in Terezín: In der Dresdner Kaserne waren seit dem 6. Dezember 1941 Frauen untergebracht, anfangs auch noch zusammen mit ihren Kindern. Im Keller richtete man damals ein Frauengefängnis, während ein anderer Teil der Räumlichkeiten für Theaterveranstaltungen und andere Kulturveranstaltungen genutzt wurde.

Wir erfuhren im Rahmen einer Führung durch Terezín, dass gerade endlich die nötigen Fördergelder für die Reparatur des Dachstuhls und die Instandhaltung des Gebäudes bewilligt wurden. Vielleicht ist die Hochschule gegenüber ja genau der richtige Ort, um sich als angehender Psychologe oder angehende Psychologin mit der Frage zu konfrontieren, ob man dem Druck des Jobs gewachsen ist. Von der Dresdner Kaserne liefen wir weiter in das sogenannte „Haus für Kriegsbeschädigte und Ordonnanzen“ in der Dlouhá 24, die über einer Pizzeria gelegen ist. Selbst an diesem wolkenverhangenen, grauen Tag war die feuchte Luft in der winzigen Dachkammer kaum erträglich. Die vier damaligen jüdischen Bewohner zeigten sich außerordentlich kreativ bei der Ausgestaltung ihrer ärmlichen Unterkunft: Wandmalereien und Graffiti erzählen Geschichten von Liebeskummer, schlaflosen Nächten und von der Sehnsucht nach der Heimat. Im November und Dezember 1943 entstand der Raum, in dem die eindrucksvollen Bilder zu finden sind, auf der Grundlage einer offiziellen Baugenehmigung und existierte in dieser Form bis Mai 1945.

Das spektakulärste Zeugnis jüdischen Lebens in Terezín aus den Jahren 1941-1945 aber ist die sogenannte „Poterne III“: 2005 wurde das Festungstor nach seiner jahrzehntelangen militärischen Nutzung freigelegt. 1944 ritzten Häftlinge des Ghettos Theresienstadt Namen, Ortsnamen, Jahreszahlen und bildnerische Darstellungen in den Sandstein – sogar das Stadtwappen von Köln entdeckt man unter den dargestellten Szenen. Die Erinnerung an die Gräueltaten der Nationalsozialisten hält kaum jemand so wach wie die deutsche Historikerin Uta Fischer auf ihrer Website „Ghettospuren„, wo sie auch über die „Poterne III“ berichtet. Ein spannendes Langzeitprojekt, das den damals in der Stadt gefangen gehaltenen Jüdinnen und Juden ein Stück ihrer Identität zurückgibt.

Die bildlichen Darstellungen an der „Poterne III“

Rund 300.000 Touristen besuchen Terezín derzeit jedes Jahr: Die meisten von ihnen nehmen an einer Führung durch die Kleine Festung teil. Die Nationalsozialisten nutzten sie nach der Okkupation der tschechischen Länder ab 1940 als Gestapo-Gefängnis. Die meisten Gefangenen stammten aus der ehemaligen Tschechoslowakei und waren tschechische und mährische Patrioten oder Mitglieder einzelner Gruppen oder Organisationen des Widerstands. Etwa ein Zehntel der Insassen kam aus den besetzten Gebieten Europas wie der Sowjetunion, Polen, Jugoslawien, Frankreich, England und anderen Staaten. Rund 32.000 Menschen, davon 5.000 Frauen, hielt man hier in den Jahren 1940 bis 1945 unter menschenunwürdigsten Bedingungen auf engstem Raum fest. Seit 1943 fanden darüber hinaus Exekutionen in der Kleinen Festung auf dem Hinrichtungsplatz statt.

Schwer und bedrückend war der Gang über dieses Gelände, auf dem sich hinter jeder Eingangstür ein Abgrund auftut. Eine bleierne Stille lag in der Luft, als wir gemeinsam mit den Studentinnen und Studenten der Hochschule für Musik und Tanz Köln und Per Boye Hansen, dem Intendanten der Oper des Prager Nationaltheaters und der Staatsoper Prag, die einzelnen Baracken besichtigten. Dass Hansen als Initiator von „Musica non grata“ nach Terezín reiste und an unserem Rundgang teilnahm, unterstrich einmal mehr die Bedeutung, die das Projekt für seine beiden Häuser hat.

Nachdem wir einen langen Tunnel durchquert hatten, hörten wir plötzlich ein leises Zirpen über unseren Köpfen. Wir beobachteten, wie eine Schwalbe zu ihrem Nest flog, das sie sich hier gebaut hatte. Neues Leben an einem Ort, der so vielen Menschen den Tod brachte:  Welche ein tröstlicher Anblick inmitten all der Traurigkeit.

3 / 9

Ich kam mit dem Pianisten Alexander Breitenbach ins Gespräch, der sich vor seiner Reise nach Terezín bereits im Rahmen des Projekts EchoSpore mit verfemter Musik auseinandergesetzt hatte. „Ausblenden kann man die Umstände, unter der die Musikerinnen und Musiker ihre Werke in Theresienstadt komponierten, als Musiker nie. Wichtig finde ich aber, dass man seine eigenen Emotionen ein Stück weit hinten anstellt und sich stattdessen intensiv mit dem Inhalt des Werkes des jeweiligen Komponisten oder der Komponistin auseinandersetzt, so dass es einem gelingt, das Publikum mit seinem Spiel zu berühren“. Ähnlich wie seine Kolleginnen und seine Kollegen an der Hochschule für Musik und Tanz möchte auch Breitenbach dazu beitragen, dass die Werke der verfolgten Musiker und Musikerinnen langfristig ihren Platz in den Konzertspielplänen finden. Das ist auch der Wunsch der Geigerin Seowon Kim, die in Korea geboren wurde und in den USA aufgewachsen ist. „Für mich ist die Summer School ein Glücksfall, da ich dadurch viele neue Komponistinnen und Komponisten wie Gideon Klein kennenlernen durfte“. Der Besuch der Kleinen Festung hinterließ besonders starken Eindruck auf sie: Schließlich war es für Seowon Kim die erste Begegnung mit einem Konzentrationslager-ähnlichen Ort. Obwohl es herausfordernd gewesen sei, direkt nach der Führung durch die Baracken ihre Stücke für das Konzert am Abend zu proben, habe es ihr als Musikerin geholfen, einen Bezug zu dem Ort herstellen zu können, an dem viele der im Rahmen der Summer School zu hörenden Werke entstanden sind.

Schon am ersten Konzertabend wird klar, was das Projekt „Musica non grata“ so einzigartig macht: Es weist weit über seinen Anspruch, einen Beitrag zur Völkerverständigung und zur Erinnerung an die einst verfemten Musikerinnen und Musiker zu leisten, hinaus. Das schöpferische Werk der jeweiligen Komponistinnen und Komponisten wird im Rahmen von „Musica non grata“ in seiner Gesamtheit betrachtet: Denn die Werke, die sie während der NS-Zeit komponierten, umfassen oft nur einen kleinen Teil ihres Œuvres. Erwin Schulhoff, dessen Klavierstücke in Terezín auf eine herausragende Weise von Alexander Breitenbach interpretiert wurden, ließ sich beispielsweise in seinen Kompositionen vom Jazz und Modetänzen inspirieren, die er mit traditionellen Musikformen mischte.

In Deutschland waren meine Konzerterfahrungen, die mit der Aufführung von Werken jüdischer Musikerinnen und Musiker zu tun hatten, bisher stets in einen deutsch-jüdischen Begegnungskontext eingebettet. So wenig ich all diese musikalischen Erfahrungen missen möchte, so sehr schätze ich den Ansatz von „Musica non grata“, mit ihrem Projekt eine neue Form der Erinnerungskultur zu etablieren. Bei dieser steht weniger der kulturelle oder religiöse Hintergrund eines Komponisten oder einer Komponistin im Vordergrund, als vielmehr der Versuch, die tschechische Kulturhistorie über die Wiederentdeckung und -aufführung der Werke der Musikerinnen und Musikern neu zu schreiben.

„Die ermordeten Komponistinnen und Komponisten haben das tschechische Musikleben in den 1930er Jahren maßgeblich geprägt. Durch die ‚Zerschlagung der Rest-Tschechei‘ 1939 und die Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die künstlerische Vielfalt, die sich in Prag als dem europäischen Zentrum der Musikkultur herausgebildet hatte, mit einem Mal zerstört“, sagte Per Boye Hansen, als er uns nach zweiten Tagen in Terezín zu einem Rundgang durch das Nationaltheater in Prag einlud. Seit 2019 ist der Norweger, der von 2003 bis 2005 als Betriebs- und Operndirektor an der Komischen Oper Berlin arbeitete, als Intendant für das Programm der Oper des Prager Nationaltheaters und der Staatsoper zuständig. Neben dem Wunsch, die Erinnerung an die in der NS-Zeit verfolgten Musikerinnen und Musiker wachzuhalten und die Künstlerinnen und Künstler dadurch zu ehren, findet Hansen es auch spannend, sich von den künstlerischen Ideen, die damals in Prag entwickelt wurden, inspirieren zu lassen. „Die Komponistinnen und Komponisten haben ihre Stücke nicht als Protest gegen die Nationalsozialisten begriffen, sondern sich in ihren Kompositionen mit vielen unterschiedlichen Themen beschäftigt. Daher ist es wichtig, ihr Werk in all seinen Facetten zu erforschen und den Raum dafür zu schaffen, dass die Stücke dieser Künstlerinnen und Künstler regelmäßig auf großen Konzertbühnen zu hören sind“.

Unterwegs mit Per Boye Hansen durch das „Národní divadlo“, das Prager Nationaltheater, das das bedeutendste Theater- und Opernhaus der tschechischen Hauptstadt Prag ist.

Einen ähnlichen Blick auf ihre Werke hat auch Prof. Lubomír Spurný vom „Terezín Composers‘ Institute„, der sich dort intensiv mit den Stücken der im Ghetto untergebrachten Musikerinnen und Musiker beschäftigt. „Die meisten von ihnen betrachteten sich weniger als Jüdinnen und Juden, sondern begriffen sich vor allem als Europäer“. Spurný ist es wichtig, dass die heutige Generation junger Musikerinnen und Musiker die Komponistinnen und Komponisten von damals wiederentdeckt. Er betonte darüber hinaus, wie spannend es sei, die Werke herausragender Komponistinnen wie Vítězslava Kaprálová zu erforschen – ihnen wird im kommenden Jahr ein großer Schwerpunkt im Rahmen des „Musica non grata“-Programms gewidmet sein.

Der letzte Tag unserer Reise nach Terezín und Prag endete mit dem Besuch eines Konzerts an einem Ort, an dem sich 1989 ein historisches Ereignis in Bezug auf den Fall der innerdeutschen Mauer abspielte. Ab August 1989 suchten viele tausend DDR-Bürger Zuflucht in der Deutschen Botschaft in Prag. In den Wochen darauf besetzten sie das Gelände, worauf die DDR-Behörden einlenkten und ab 30. September insgesamt 17.000 ihrer Bürger die Ausreise in die Bundesrepublik erlaubten. Berühmt wurde die Rede des damaligen Außenministers Hans-Dietrich Genscher, der den Protestierenden auf dem Balkon der Deutschen Botschaft die frohe Kunde von ihrer Ausreise. Am 3. November schließlich gewährten die ČSSR-Behörden den DDR-Bürgern die unreglementierte Ausreise in den Westen und hoben somit ihren Teil des Eisernen Vorhangs – eine Entscheidung, die als wegweisend in Bezug auf den Fall der Berliner Mauer gilt.

Umgeben von so viel Historie erklangen hier neben den Werken der während der NS-Zeit verfolgten Komponistinnen und Komponisten wie Vítězslava Kaprálová, Gideon Klein, Alexander Zemlinsky, Ilse Weber oder Viktor Ullmann auch die „Klaviersonate 1. X. 1905„, das bedeutendsten Klavierwerk von Leoš Janáček. Die Komposition ist eine direkte Reaktion Janáčeks, einer der wichtigsten tschechischen Komponistinnen und Komponisten des 20. Jahrhunderts, auf den Tod eines tschechischen Arbeiters, der während einer Demonstration in Brünn vom Militär erschossen wurde. In seiner Impulsivität und tiefen Melancholie erinnert mich die von Florence Millet beim Konzert in der Deutschen Botschaft in Prag interpretierte Klaviersonate an Edmund Meisels Musik für den Stummfilm-Klassiker „Panzerkreuzer Potemkin„. „Ich dringe mit der Wahrheit durch. Bis ans Äußerste. Wahrheit schließt Schönheit nicht aus. Im Gegenteil: von beidem immer mehr“, sagte Janáček einst. Eine Aussage, die auch für das Wirken seiner während der NS-Zeit verfolgten Kolleginnen und Kollegen gilt.

Mein persönliches Highlight an diesem letzten Abend unserer Reise war die Interpretation des Streichtrios von Gideon Klein  durch Jeanette Gier-Monger, Weichueh Chen und Seowon Kim.  Man mag Künstlerinnen und Künstler erniedrigen, quälen und töten können – ihre kreativen Ideen und ihr Bekenntnis zur Humanität jedoch werden immer weiterleben. Wie schön, dass eine Generation junger Musikerinnen und Musiker nun die Gelegenheit hat, das reiche musikalische Erbe der Komponistinnen und Komponisten, die während der Zeit des Nationalsozialismus verfolgt wurden, kennenzulernen und ihren Werken dadurch diejenige Bühne zu bieten, die ihnen zu Lebzeiten verwehrt blieb.

Von links nach rechts: Florence Millet, Seowon Kim, Jeanette Gier-Monger und Weichueh Chen bei einer Probe in Terezín

Eine solch eindrückliche Reise wäre nicht möglich ohne eine entsprechende Vorbereitung. Ich danke Benedikt Klauser und insbesondere Ulrike Wilckens von der PR-Agentur Ophelias Culture PR für die Einladung nach Terezín und nach Prag und Ulrike Wilckens in ganz besonderem Maße für die großartige Betreuung vor Ort. Ich möchte auf diesem Wege auch noch auf die Artikel meiner mitreisenden Journalisten-Kolleginnen und -kollegen Claudia Irle-Utsch, die für die Neue Musikzeitung und den Kölner Stadtanzeiger über die Summer School Terezín berichtet hat, auf den Artikel von Rasmus Peters in der FAZ und auf den Beitrag von Dr. Peter Lange in Deutschlandfunk Kultur hinweisen: 

Mich hat das Schicksal der Schriftstellerin und Komponistin Ilse Weber während unserer Reise so bewegt, dass ich den Text ihres Liedes „Seid gut zueinander“ für meinen Blogartikel eingesprochen habe: 

"Seid gut zueinander" von Ilse Weber by Lena Kettner


Mehr Informationen über das Projekt „Musica non grata“: 

https://www.musicanongrata.cz/de/

Facebook @ndopera, Instagram @narodnidivadlo_opera, YouTube

https://www.ophelias-pr.com/projektdetails/musica-non-grata-1093.html

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