„Wer wir gewesen sein werden“ ist einer der ergreifendsten Liebesfilme, die ich je gesehen habe. Gerade feierte der Dokumentarfilm des Regisseurs Erec Brehmer und seiner Freundin Angelina Zeidler seine Weltpremiere im Rahmen des diesjährigen DOK.fest München. „Wer wir gewesen sein werden“ handelt von Angi, die im März 2019 mit nur 29 Jahren bei einem Autounfall verstarb. Und von ihrem Freund Erec und seinem Weg der Trauerbewältigung.
Ein Gespräch mit Erec Brehmer über Angi, die Arbeit an seinem sehr persönlichen Film, das System Beziehung und ein ganz besonderes Fachbuch der Chirurgie.
„Du warst das Glück, das ich kaum erwarten konnte, jeden Abend wiederzusehen. Du warst die Freude, die mir das restliche Leben nicht geben konnte“.
Als ich Erec im Mai 2021 zu unserem Interview im Innenhof der HFF treffe, ist es rund drei Jahre her, dass ich ihn zum letzten gesehen habe. Er war einer der ersten Studenten, die ich 2010 kurz nach dem Beginn meines Kulturkritik-Studiums an der HFF München und der Bayerischen Theaterakademie August Everding kennenlernte. Erec war als Student der Spielfilmregie stets sehr interessiert an der Meinung der angehenden Kritikerinnen und Kritikern. Und er setzte uns sogar als Statistinnen und Statisten in seinem ersten Kurzfilm „Die Kunst zu stören“ an der HFF ein. Bereits hier zeigte sich Erecs Gespür dafür, Paarbeziehungen in all ihrer Schönheit, Kompliziertheit und Komplexität auf der Leinwand zu zeigen.
Vor dem Beginn seines Regiestudiums absolvierte Erec eine Ausbildung zum Mediengestalter Bild und Ton beim ZDF in Mainz. Während seines Studiums realisierte er kurze und mittellange Filme, die auf internationalen Festivals liefen und wirkte als Editor an Kurz-, Image- und Werbefilmen anderer Regisseure mit. 2016 präsentierte Erec seinen mittellangen Spielfilm „Voicemail“ über einen ehrgeizigen Journalisten, der dem Fall eines verschwundenen Mädchens hinterher spürt, im Rahmen des Filmfestival Max Ophüls Preis. „Voicemail“ wurde beim Figueira Film Art Festival in Portugal als Bester Studentenfilm ausgezeichnet und gewann beim Landshuter Kurzfilmfestival den Publikumspreis.
Trailer: Voicemail (2016) from Erec Brehmer on Vimeo.
2018 schloss Erec sein Regie-Studium an der Hochschule für Fernsehen und Film München ab. 2019/2020 war er Teilnehmer der 31. Drehbuchwerkstatt München sowie des Talentförderprogramms „ZFF Academy“ im Rahmen des Züricher Filmfest 2020. Bei der diesjährigen Berlinale wurde er als einer von 250 Talenten für das Programm „Berlinale Talents“ ausgewählt.
Ich erinnere mich noch genau an einen Facebook-Post von Erec im Februar 2019, in dem er seine Freunde und Bekannten zurecht mit einigem Stolz auf einen Zeitungsartikel mit einem großen Bild seiner Freundin Angelina Zeidler in DIE ZEIT hinwies. Die Wochenzeitung berichtete damals über die zunehmende Popularität von Ausbildungsberufen unter jungen Menschen mit Hochschulreife. Angi hatte sich in den Jahren zuvor mit großer Leidenschaft im Kloster Andechs als Brauerin und Mälzerin ausbilden lassen.
Nur ein einziges Mal bin ich Angi persönlich begegnet: 2018 beim DOK.fest München. Es ist schwer zu begreifen, dass diese lebensfrohe junge Frau nicht mehr unter uns weilt, wenn man sie wie in meinem Fall in dem Erecs und ihrem Dokumentarfilm wieder sieht.
„Wer also werden wir gewesen sein?“, fragte der renommierte Publizist Roger Willemsen in seinem posthum erschienenen Essay „Wer wir waren„. Damit stellte er den Versuch an, die Gegenwart von der Zukunft her zu betrachten. „Wer wir waren“ ist ein leidenschaftlicher, melancholischer und in gewisser Weise auch gnadenloser Appell des 2016 verstorbenen Intellektuellen an die nachfolgende Generation, sich nicht mit dem gesellschaftlichen und politischen Status Quo zufrieden zu geben.
Wie Roger Willemsens Gesamtwerk ist auch Erec Brehmers und Angelina Zeidlers Film „Wer wir gewesen sein werden“ getragen von dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit – aber auch von der Erkenntnis, wie viele schöne Seiten das Leben täglich in vielen kleinen Momenten bietet. Erec Brehmer gelingt mit seinem ersten Dokumentarfilm nicht nur eine wunderbare Hommage an seine geliebte Freundin, sondern er erzählt darin auch von der Reise zu sich selbst, auf die er sich nach dem Tod von Angi im März 2019 begeben musste. Erec schildert als Erzähler in „Wer wir gewesen sein werden“ seine Erfahrungen im Umgang mit der eigenen Trauer: In ruhigen, poetischen Einstellungen begleiten ihn die Zuschauer*innen auf seinem Weg in eine neue Zukunft, in der Erec nicht mit Angi abschließt, sondern lernt, sie auf eine andere Art und Weise in sein Leben zu integrieren.
Erec, im Sommer vor einem Jahr startete dein Spielfilm „La Palma“ in den deutschen Kinos: Ich mochte diesen unsentimentalen Film über ein Paar, das im Urlaub ein Rollenspiel eingeht, weil es glaubt, der Realität ihrer Beziehung dadurch entgehen zu können, sehr.
Man kann in diesem Film sehr viel Schönes sehen, wenn man möchte und es freut mich, dass er dir gefallen hat. Da ging es dir wie 50% der Zuschauer*innen, die den Film auf Amazon bewertet haben. Die anderen 50% konnten mit „La Palma“ so gar nichts anfangen.
Was haben sie vor allem kritisiert?
Alles, ganz generell: Schlechte Schauspieler, schlechter Ton, schlechte Geschichte…
Vielleicht sehen wir einfach zu viele Liebesfilme, die nach demselben Muster gestrickt sind.
Viele haben vermutlich einen anderen Film erwartet. „La Palma“ ist sehr langsam erzählt, es gibt ein offenes Ende und mein Film versucht nicht, sich psychologisch in die Figuren hinein zu fühlen. Er wirft einen immer wieder auf sich selbst zurück und regt zum Nachdenken an.
Ein dreiviertel Jahr später läuft nun ein Liebesfilm der ganz anderen Art von dir im Wettbewerb des Münchner DOK.fest.
Durchaus. „Wer wir gewesen sein werden“ ist ein Dokumentarfilm über den plötzlichen Tod meiner Lebensgefährtin vor zwei Jahren, über meinen Trauerprozess und die Frage, wo ich Angi noch immer wieder begegnen kann. Neben einigen persönlichen Kontakten waren die Mitglieder des DOK.fest-Teams und Oliver Baumgarten vom Filmfestival Max Ophüls Preis die ersten Leute aus der Filmbranche, denen ich eine frühe Version meines Dokumentarfilms „Wer wir gewesen sein werden“ gezeigt habe. Ich wollte ein ehrliches Feedback bekommen, ob es sich bei dieser Annäherung an meine verstorbene Freundin Angi und den Umgang mit meiner eigenen Trauer um einen Film handelt, der auch für Zuschauer*innen Relevanz hat, die Angi nicht kannten.
„Angi hat sich schnell daran gewöhnen müssen, von mir gefilmt zu werden. Auch, weil ich sie gern beobachtet hab“, sagst du in „Wer wir gewesen sein werden“. Wie lange hat es gedauert, bis du dich mit dem über die dreieinhalb Jahre eurer Beziehung hinweg entstandenen Filmmaterial von ihr auseinandersetzen konntest?
Ich dachte bereits in den Wochen, in denen ich im Krankenhaus lag, dass ich sofort alle Aufnahmen sichern muss, sobald ich wieder zu Hause bin.
Fiel es dir nicht schwer, Angi in all den Filmen und auf all den Fotos in ihrer ganzen Lebendigkeit zu erleben?
Nein, denn dieses Material war das Einzige, was mir von Angi geblieben war. Es war sozusagen die einzige direkte Auseinandersetzung mit ihr, die mir blieb.
Gab es bereits zu diesem Zeitpunkt die Idee, einen Film aus all den Aufnahmen und Fotos zu schneiden?
Ja, auch wenn ich noch nicht wusste, ob ich ihn jemals veröffentlichen will. Ich habe schon recht früh einige Szenen aneinander gefügt, um zu schauen, wie sie miteinander harmonieren. Ich war plötzlich in eine Situation hineingeworfen, die ich nicht kannte – und als Regisseur ist das Filmemachen mein Zugang, um mich eingehender mit Dingen zu beschäftigen. Zudem wollte ich meinen Weg der Trauerbewältigung gerne direkt aus dem Prozess heraus dokumentieren.
Gab es Filme anderer Filmschaffenden, die dir in dieser Situation halfen?
Ich habe mir viele Filme angeschaut, aber leider waren fast alle Werke aus der Distanz heraus erzählt – das bringt einem nichts, wenn man mitten in einem Trauerprozess steckt. Ich habe mich in dieser Zeit lieber auf Sachbücher zum Thema Trauer konzentriert und z.B. ein spannendes Buch eines Wissenschaftlers gelesen, der über 40 Jahre hinweg bei Patienten untersucht hat, ab wann ihre Trauer pathologisch wird. Laut dem Wissenschaftler müssen drei Dinge erfüllt sein, um sich auf einem guten Weg zu befinden, die eigene Trauer zu bewältigen: Dass man Fotos und Videos des Verstorbenen oder der Verstorbenen sieht und sich dabei gut fühlt; dass man positiv über das Geschehene sprechen kann – in meinem Fall hatten Angi und ich einen sehr schönen Skitag zusammen, sie war sofort tot und musste nicht leiden, nachdem unser Autounfall passierte; und dass man weinen kann, aber es nicht überall muss. Da diese drei Dinge auf mich zutrafen, wusste ich, dass ich nichts aktiv tun konnte, sondern mich der Situation einfach hingeben musste.
Was bedeutet Trauer für dich ganz persönlich?
Sie ist eine normale Reaktion des Körpers auf ein Problem, das nicht lösbar ist: Denn dazu müsste der geliebte Mensch wieder lebendig werden. Und Trauer ist nicht statisch. Sie verändert sich immerzu.
Es gibt diese sehr bewegende Sprachnachricht von dir an Angis Mutter zu Beginn von „Wer wir gewesen sein werden“. Brauchte es einige Überwindung, um sie in deinen Film einzubauen?
Ich habe diese grausame Sprachnachricht erst später wieder auf meinem Handy gefunden, da ich in jenem Moment im Krankenhaus total betäubt war. Zu dem Zeitpunkt ahnte ich noch nichts von Angis Tod. Mir wurde irgendwann klar, dass ich diese Nachricht nicht einfach so existieren lassen kann, sondern dass ich sie in etwas Schönes wie diesen Film einbetten muss. Ich musste ihr etwas Sinnstiftendes aufzwängen.
Wie fühlte sich die Zeit direkt nach Angis Tod für dich an?
Ich bin wie ein Alien durch die Gegend gerannt und habe mich nicht zugehörig gefühlt. Angi und ich sind in den dreieinhalb Jahren unserer Beziehung wirklich miteinander verschmolzen und waren in gewisser Art und Weise voneinander abhängig. Das war aber kein Problem für uns, denn wir wollten so viel Zeit wie möglich miteinander verbringen. Als Angi starb, starb auch die gemeinsame Welt, die wir uns zusammen aufgebaut hatten.
Mehrere Stellen in „Was wir gewesen sein werden“ wie die sehr schön gefilmten Szene im Schmetterlingshaus gingen mir sehr nah: Es wirkte beinahe, als hättest du eine Vorahnung in Bezug auf Angis Tod gehabt.
Diese Schmetterlinge haben wir zufällig gedreht und sie haben erst im Schnittprozess diese symbolische Ebene bekommen. Aber natürlich versucht man im Nachhinein immer einen Grund für das Geschehene zu finden: Warum haben wir im Jahr, bevor der Unfall passiert ist, so viel über das Thema Sterben geredet? Warum hat Angi all ihre Passwörter so hinterlegt, dass ich an sie rankomme? Neben all diesen schweren Themen gab es da aber auch so viel Leben in unserer Beziehung und so viele gemeinsame Projekte und Pläne für unsere Zukunft.
So wie es in eurem Film wirkt, hat Angi es sehr genossen, vor der Kamera zu agieren.
Sie wollte tatsächlich in früheren Jahren einmal Schauspielerin werden. Angi war unglaublich fotogen und ich liebte es, sie durch die Kamera hindurch zu beobachten. Jede neue Technik, die ich mir zugelegt habe, wurde sofort gemeinsam mit ihr ausprobiert. Besonders Fotos sind eine Möglichkeit, mich an diejenigen Momente zu erinnern, an die ich mich gerne erinnern möchte.
Hast du durch die Kamera noch einmal andere Facetten an Angi entdeckt, die im normalen Leben gar nicht so explizit zum Vorschein kamen?
Angi war ein sehr lustiger Mensch. Manchmal habe ich gemerkt, dass Angi noch lustiger ist, als ich dachte. Und erst im Nachhinein sind mir diese kleinen, verliebten Blicke aufgefallen, die Angi mir oft zuwarf.
Hattest du eigentlich mal überlegt, gemeinsam mit Angi einen Film zu drehen?
Ich hatte tatsächlich mal überlegt, sie in einem meiner nächsten Filme mit einer kleinen Rolle einzubauen. Ich fürchte jedoch, dass Angi keine besonders gute Schauspielerin gewesen wäre, weil sie sehr durchlässig war und nichts vortäuschen konnte, was sie nicht genau so empfand.
Wem hast du die erste, damals noch 45-minütige Version von „Wer wir gewesen sein werden“ zuerst zu sehen gegeben?
Der Familie von Angi und einigen Filmemachern, mit denen ich befreundet bin. Vielen fiel es aber schwer, mir Kritik zu geben. Also habe ich den Film an Prof. Karin Jurschick geschickt, die die Abteilung Dokumentarfilm an der HFF München leitet. Denn sie fand meinen Film „La Palma“ ganz furchtbar (lacht). Ich wusste, dass ich von ihr ein ehrliches Urteil über „Wer wir gewesen sein werden“ erwarten könnte.
Wie fiel dieses Urteil aus?
Sie fand, dass der Film sehr schöne Momente hat, aber einiges darin zu privat und zu wenig relevant für den Zuschauer ist. Sie hat mich motiviert, Angi und mich als Figuren zu betrachten und den Bildern Fragen zu stellen, auf die ich keine Antwort mehr erhalten werde. Grundsätzlich bin ich sehr ergebnisoffen an die Recherchearbeit zu „Wer wir gewesen sein werden“ herangegangen, weil ich nicht von Beginn an wusste, welche Geschichte ich genau mit meinem Film erzählen wollte. Wichtig war mir, dass sich das, was ich da wie ein Puzzle filmisch zusammenfügte, wahrhaftig anfühlte. Durch das Zusammensetzen der Bilder und Aufnahmen entstand eine Wirklichkeit, die ich aus dem Film heraus für mein Leben übernehmen konnte. Das war sehr spannend zu beobachten.
Inwiefern unterscheidet sich die finale Fassung von „Wer wir gewesen sein werden“ von deiner ersten Fassung?
Die erste Fassung meines Films war wie ein geschlossenes Narrativ: Das entspricht aber ganz und gar nicht meiner Erfahrung von Trauer. Denn ich habe mich immer geweigert, Angi loszulassen. Mir gefällt die Idee, dass man lernen muss, den Verstorbenen oder die Verstorbene neu in sein Leben zu integrieren und eine neue Art der Beziehung zu ihm oder ihr aufzubauen. Für die zweite Fassung meines Films bin ich meine Tagebücher noch einmal durchgegangen und habe eine zweite Erzählebene eingebaut, in der ich Angi direkt anspreche. Ich habe meinen Film thematisch anders strukturiert und wollte zum Beispiel meinen Zuschauer*innen auch mit der Frage konfrontieren, wie man jemandem begegnen kann, der oder die mitten in einem Trauerprozess steckt.
Wird das Thema Trauer in unserer Gesellschaft zu sehr tabuisiert?
Das nicht unbedingt, aber viele Menschen haben eine unglaubliche Angst davor, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Und sie haben vielleicht Angst, einen Trauernden zu retraumatisieren, indem sie ihn nach dem oder der Verstorbenen fragen. Ich kann nur von mir selbst sprechen: Mich freut es immer sehr, wenn jemand etwas von Angi wissen möchte.
Du hast Ausschnitte aus deinem Film im vergangenen Jahr bei einem Talentförderprogramm in Zürich gezeigt. Wie waren die Reaktionen seitens der jungen Filmemacher*innen auf „Wer wir gewesen sein werden“?
Interessanterweise hat mich kaum jemand auf Angi oder auf die Trauer angesprochen. Doch viele haben mir Geschichten erzählt, die sie sonst nicht geteilt hätten: Geschichten über die Tonbänder des Vaters, die man nach dessen Tod im Keller entdeckt hat, über die eigene Depressionen und so weiter. Es schien, als gäbe ihnen „Wer wir gewesen sein werden“ die Erlaubnis, sich endlich über diejenigen Dinge austauschen zu können, die für sie identitätsstiftend sind. Das war eine schöne Erfahrung.
Ich kann mich noch gut daran erinnern, als ich 2019 auf Facebook las, dass du eine neue Wohnung suchst. Ich wusste, wie eng die Beziehung zwischen Angi und dir war und ich konnte kaum glauben, dass ihr euch getrennt habt. Kurze Zeit später erfuhr ich durch eine Freundin von Angis Tod.
Hattest du eigentlich die Möglichkeit, Angi einmal persönlich kennenzulernen?
Ja, aber leider haben wir nur ein einziges Mal miteinander geredet: Ausgerechnet beim DOK.fest 2018!
Ach wie schön! Es freut mich sehr, dass „Wer wir gewesen sein werden“ jetzt bei diesem Festival läuft, weil ich es immer auch mit einer gemeinsamen Erfahrung mit Angi verbinde.
Hast du manchmal das Gefühl, Angis Anwesenheit zu spüren?
Ja, absolut. Und ich hatte vor dem Unfall überhaupt keinen Bezug zu irgendeiner Form von Spiritualität. Inzwischen spüre ich Angi ganz oft als ein Gefühl in mir. Ich habe übrigens auch eine schicksalshafte Erfahrung der ganzen anderen Art in Bezug auf sie gemacht: Angi las im Laufe unserer Beziehung genau zwei Bücher: „Bob, der Streuner“ und ein medizinisches Buch über die Geschichte der Chirurgie.
Eine interessante Mischung…
Absolut. Angi wollte mich immer wieder dazu motivieren, dieses Buch zu lesen, aber ich bin nie dazu gekommen. Sie hat die Lektüre ebenfalls nicht beendet. Der erste bezahlte Drehbuch-Job, den ich bekommen habe, war dann eine Sachbuchadaption über ein medizinisches Buch und die Produzentin sagte zu mir: „Im Zuge deiner Recherche lege ich dir nahe, dieses Buch zu lesen“. Wie es der Zufall so wollte, handelte es sich dabei exakt um Angis medizinisches Fachbuch. Da dachte ich mir: „Ist ja gut, Angi. Ich lese es ja schon.“
Unglaublich. Was ich sehr an euch mochte und was in „Wer wir gewesen sein werden“ sehr zum Tragen kommt, ist euer Sinn für Humor.
Ja, aber wir konnten auch hervorragend miteinander streiten! Ich bin kein einfacher Mensch und Angi hatte einiges mit mir auszuhalten. Interessanterweise haben wir aber eine Art von Streitkultur entwickelt, bei der niemand den Raum verließ, bis der Streit geklärt war. Solang diese Regel eingehalten wurde, war im Grunde jeder Streit unwichtig.
Was hat Angi zu so einem liebenswerten Menschen gemacht?
Ich persönlich erinnere mich an unglaublich viele Situationen, in denen mich ihr offenes und hilfsbereites Wesen immer wieder gerührt haben. Es war schwer, Angi nicht zu mögen.
Es heißt an einer Stelle im Film: „Angi wollte einfach geliebt werden. So wie sie war. Und ich dachte mir damals: Super, das kann ich“.
Manchmal reicht genau das aus, um einen Menschen zurück zu lieben.
War dir bei eurer ersten Begegnung schon klar, dass sich daraus etwas Langfristiges ergeben könnte?
Nein, überhaupt nicht. Selbst nach den dreieinhalb Jahren gab es immer noch Zweifel meinerseits. Soll ich mit ihr zusammenziehen, ist sie wirklich die Frau meines Lebens… Es hätte aber nicht mehr lange gedauert, bis ich um Angis Hand angehalten hätte. Jetzt im Nachhinein kann ich meine Zweifel an unserer Beziehung überhaupt nicht mehr nachvollziehen.
Aber ist es nicht allzu menschlich, diese Zweifel immer wieder zuzulassen?
Das schon. Ab dem Moment, in dem der Unfall stattfand, gab es jedoch nur noch die schönen Momente mit Angi in meinem Kopf. Jeder Streit, jede Unzufriedenheit meinerseits hatte keine Bedeutung mehr.
Flossen einige der Erfahrungen, die du mit Angi in deiner Beziehung gemacht hast, eigentlich in dein Drehbuch zu „La Palma“ ein?
Es gibt da diesen Moment, in dem Sanne zu Markus sagt: „Jetzt schaust du mich wieder an mit diesem Blick des Todes“. Das hat Angi immer gesagt, wenn sie nach einem Streit wieder für eine bessere Stimmung zwischen uns sorgen wollte. Als Angi den Rohschnitt von „La Palma“ sah, rannte sie wütend aus dem Kino und meinte: „Das geht die Leute gar nichts an, was wir da miteinander besprechen“. Sie hat aber schnell akzeptiert, dass es in „La Palma“ nicht um uns, sondern allgemein um das Phänomen Beziehung geht. Einen Satz wie „Jetzt schaust du mich wieder an mit diesem Blick des Todes“ hörte ich danach jedoch leider nie wieder von ihr. Es war, als hätte ich ihr diesen Satz genommen und als wäre er in ihr verschwunden. Das finde ich sehr schade und heute bin ich vorsichtiger geworden, welche Sätze ich meinen Figuren in den Mund lege.
Was ist an dem System Beziehung als Filmemacher so spannend zu beobachten?
Für mich ist es das kleinste System, in dem zwei Menschen miteinander leben können. Systeme finde ich an sich spannend, weil man durch sie sein eigenes Verhalten überdenkt oder verändert. All die Facetten, die man an sich selbst nicht mag oder für die man sich vielleicht sogar schämt, muss der Partner oder die Partnerin annehmen und akzeptieren – und sogar lieben lernen.
Daniel Sträßer, der Hauptdarsteller von „La Palma“, hat dich in einem Interview anlässlich des Filmfestivals Max Ophüls-Preis als klugen Menschenbeobachter beschrieben.
Das ehrt mich sehr, obwohl ich mich selbst gar nicht als einen solchen ansehe. In meinen Filmen finde ich spannend, Fragen zu stellen und viele von ihnen unbeantwortet zu lassen.
Wie war es für dich, „La Palma“ nach Angis Tod noch einmal zu sehen?
Ein Satz meiner Hauptfigur Sanne wie „Vielleicht sind Menschen auch nur für eine gewisse Phase ihres Lebens zusammen“ hat für mich natürlich heute eine ganz andere Bedeutung. Was mich übrigens sehr gerührt hat, war der Spruch auf Angis Trauerkranz, den die Crew von „La Palma“ spendete. Darauf stand folgendes Zitat aus meinem Film: „Wenn man in den Wellen dieser Bucht ertrinkt, dann ist man im nächsten Leben ein Pirat“.
Angi hätte dieser Spruch sehr gefallen.
Auf jeden Fall. Dass die Auswahl gerade auf dieses Zitat fiel, zeigt mir, dass es Menschen gibt, die sich trauen, in einer solchen Situation auf eine ehrliche und offene Art und Weise auf einen Trauernden zuzugehen.
Ich für meinen Teil tue mich mit unserer Art der Trauerbewältigung oft schwer – gerade, wenn es um Beerdigungen geht, die für mich immer etwas von einer tristen Inszenierung haben.
Einerseits haben die Beerdigungsrituale in dieser absoluten Ausnahmesituation etwas Beruhigendes für viele Menschen. Andererseits darf man die Beerdigung nicht als eine Art Abschluss der Trauer interpretieren.
Wirst du eigentlich heute, zwei Jahre nach dem Unfall, noch oft nach Angi gefragt?
Leider nein. Dabei würde ich sehr gerne öfter von ihr erzählen. Ich glaube, man muss als Angehöriger oder nahestehender Freund oder Freundin nicht Angst haben, eine Person zu retraumatisieren, indem man solche Fragen stellt. Es ist schön für mich, zu schildern, in welchen Momenten ich Angis Energie bis heute spüre.
Wer hat dir damals nach dem Tod von Angi geholfen, deine Trauer zu bewältigen?
Ich war Teil einer Selbsthilfegruppe der Nicolaidis YoungWings Stiftung in München, die Trauerbegleitung und Beratung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene anbietet. Ich mache übrigens gerade bei der Stiftung eine Weiterbildung zum ehrenamtlichen Trauerhelfer, um ein bisschen was von dem, was ich dort erlebt habe, zurückgeben zu können.
Hast du eigentlich zu irgendeinem Zeitpunkt Wut über das empfunden, was Angi und dir widerfahren ist?
Überhaupt nicht, obwohl es laut vielen Trauermodelle ganz selbstverständlich zu dieser Phase der Wut kommen muss. Viele dieser Modelle spiegeln nachgewiesenermaßen schon lang nicht mehr einen natürlichen Trauerprozess wider.
Ist Trauer für dich etwas Hochindividuelles?
Jein: Denn sind wir doch alle Menschen und es gibt Ähnlichkeiten in unserer Art, wie wir trauern. Wir haben aber in unserer Gesellschaft aber nie einen kollektiven Umgang mit unserer eigenen Trauer und mit der Trauer von Menschen, die uns nahestehen, gelernt.
Du erzählst in „Wer wir gewesen sein werden“ nicht nur von Angi, sondern auch davon, wie es ist, nach dem Tod einer geliebten Person eine neue Beziehung einzugehen.
Das war mir sehr wichtig: Aber „Wer wir gewesen sein werden“ sollte sich vor allem um Angi und um unsere Beziehung drehen. Und eine neue Beziehung ersetzt natürlich nicht die alte. Umso dankbarer bin ich für meine jetzige Freundin: Denn man braucht nach dem Tod eines Partners oder einer Partnerin, die einem alles bedeutet hat, einen starken neue Partner oder eine starke neue Partnerin, der mit seinen eigenen Ängsten und mit den Ängsten des Gegenübers umzugehen weiß.
Was empfindest du heute, zwei Jahre nach dem Unfall, wenn du an Angi denkst?
Ein großes Gefühl der Dankbarkeit, dass ich einen Teil meines Weges mit ihr gehen durfte. Und eine große Demut vor dem Leben.
Was hoffst du den Zuschauer*innen von „Wer wir gewesen sein werden“ mit auf den Weg geben zu können?
Dass nicht alles, was mit der eigenen Trauer zu hat, ausschließlich schlimm ist. Es gibt viele Täler, die man durchschreiten muss und man entwickelt eine Stärke und eine Resilienz, die man bis dahin nicht für möglich hielt. Trauer bedeutet für mich, dass es ein ambivalentes Verhältnis zwischen dem Festhalten an alten Strukturen und dem Annehmen der neuen Situation gibt – und dass die eigene Psyche ihre Selbstheilungskräfte aktiviert, damit man nach einer gewissen Zeit aus nicht nachvollziehbaren Gründen wieder Freude empfinden kann.
Ich hoffe, mein Film macht den Menschen Mut: Denn ich betrachte das Thema Trauer nicht nur aus einem grausamen Blickwinkel, sondern erzählte auch die Geschichte einer großen Liebe. Und ich möchte dem Publikum klar machen, dass der Tod nicht das Ende des Lebens, sondern nur eine Veränderung bedeutet. Es gibt viele Dinge, durch die Angi weiterhin in dieser Welt präsent ist – auch wir nicht mehr in physischer Form mit ihr in Kontakt treten können. Seit Angis Tod habe ich das Gefühl, als trage ich einen Teil von ihr in mir, den mir niemals wieder jemand nehmen kann. Und ein bisschen davon steckt nun auch in unserem Film.
Lieber Erec: „Wer wir gewesen sein werden“ hat mich tief bewegt und mir gezeigt, wie glücklich man sich schätzen kann, wenn man von Menschen geliebt wird – und wenn man dieses Gefühl der Liebe auch zurückgeben kann. Dein Film macht klar, dass das Leben ein ewiger Kreislauf ist und dass man nichts als gegeben hinnehmen sollte: Schon gar nicht, wenn es um die Liebe geht. Vielen Dank für dieses ausführliche Gespräch und für deine Offenheit! Alles Gute weiterhin und ich hoffe, dass nicht wieder drei Jahre ins Land ziehen, bis wir uns wieder begegnen.
Mehr Informationen über Erec Brehmer:
https://www.erecbrehmer.com/
https://www.erecbrehmer.com/wer-wir-gewesen-sein-werden
Update (Juli 2022): Am 14.07.2022 startet „Wer wir gewesen sein werden in den deutschen Kinos“. Mehr Informationen findet ihr auf der Website des Films: