Gerade als der Regisseur Marcel Kohler mit dem Abschlussjahrgang des Studienfachs Schauspiel an der Bayerischen Theaterakademie August Everding die Proben zu seiner Inszenierung von Thornton Wilders Wir sind noch einmal davongekommen beginnen wollte, machte der durch die Coronakrise bedingte Lockdown seine Pläne zunichte. Kurzerhand beschloss Kohler, diese einmalige Ausnahmesituation für ein theatrales Experiment zu nutzen und erarbeitete die Inszenierung mit seinen Schauspielern per Videokonferenzen. Am 16.04.2020 feierte die Produktion online Premiere und wurde live aus den Wohnungen der Spielerinnen und Spieler gestreamt. Ein paar Gedanken zu einem außergewöhnlichen Theaterabend.
„Nehmen Sie das Stück nicht ernst. Es kommt nicht zum Weltuntergang“, sagt das Hausmädchen Sabina mit beschwichtigender Stimme. Es ist kalt, eiskalt in der Welt, in der die Protagonisten in Thornton Wilders Stück Wir sind noch einmal davongekommen leben müssen. Und das mitten im August. Erst die Eiszeit, dann die Sintflut und schließlich der Krieg: In drei Akten brechen in diesem Drama die großen Katastrophen der Menschheit mit unbarmherziger Wucht über Mr. und Mrs. Antrobus, ihre Kinder Henry und Gladys sowie das Hausmädchen Sabina herein.
Pünktlich um 19:30 Uhr beginnt an einem Donnerstagabend im April 2020 die Online-Premiere von Marcel Kohlers Inszenierung Wir sind noch einmal davongekommen auf dem Youtube-Kanal der Bayerischen Theaterakademie August Everding. Kohler, der seit 2015 als Ensemblemitglied am Deutschen Theater Berlin engagiert ist, gehört zu den Gründungsmitgliedern des Theaterkollektivs Neues Künstler Theater Berlin, mit dem er immer wieder die Grenzen zwischen Theater, Perfomance, Musik, Tanz und Kunst auslotet. Seit der Probenbetrieb in ganz Deutschland infolge von Corona eingestellt wurde, gehören Videokonferenzen zum Alltag für viele Theaterschaffende. Kohler und sein Team jedoch waren die ersten, die eine gesamte Inszenierung auf diesem Wege erarbeiteten.
Als ich an diesem Abend mit Stift und Block ausgestattet vor meinem Laptop sitze, fühle ich mich ein wenig an meine eigene Studienzeit im Fach Kulturkritik an der Bayerischen Theaterakademie und der Hochschule für Fernsehen und Film München zurück erinnert. Mehrmals pro Woche besuchte ich damals Theateraufführungen und Filmvorführungen, um die Arbeiten der jeweiligen Regisseure und ihrer Schauspieler anschließend zu beurteilen. Am 16.04.2020 verwandelte sich mein Wohnzimmer, in dem ich den ganzen Tag im Home Office gearbeitet und fünf Minuten vor der Vorstellung noch zu Abend gegessen habe, mit Schlag halb acht in einen Zuschauerraum. So hochkonzentriert habe ich mich in den vergangenen Wochen selten bei einer Kulturveranstaltung im Netz erlebt. Der einzigartige, unwiederbringbare Moment einer Live-Premiere schafft eben doch ein völlig anderes Theatergefühl, als das Streaming einer von der Bühne abgefilmten Inszenierung.
Kaum ein Stück eignet sich mehr für ein digitales Theaterexperiment, als das 1942 uraufgeführte Drama Wir sind noch einmal davongekommen des US-amerikanischen Schriftstellers Thornton Wilder: In dieser Menschheitskomödie, die zwischen Lehrstück und Groteske changiert, finden Dinosaurier und christlich-biblische Assoziationen ebenso ihren Platz, wie das Einmaleins, lackierte Fußnägel oder Schaukelstücke. Durch seine Bezüge zu Medien wie Film, Rundfunk oder Musical fügte Wilder dem, was man bis dahin klassischerweise als Theater begriffen hatte, eine neue Dimension hinzu.
Wilders „Held“ George Antrobus, seine Frau und seine Kinder stehen sinnbildlich für die biblischen Charaktere Adam, Eva, Lilith und Kain und sind gerade wieder einmal mit dem Leben davongekommen, als bereits die nächste Katastrophe über sie hereinbricht. Dass es dieser durch und durch amerikanischen Familie in Wilders Vorlage gelingt, sich aus den Trümmern eine neue Existenz aufzubauen, liegt auch an seinem festem Glauben an das Gute im Menschen. Denn Nächstenliebe und Erfindungsreichtum setzen sich bei zumindest kurzfristig über den ewigen Kreislauf aus Egoismus und der Grausamkeiten hinweg.
Der Regisseur Marcel Kohler ist in seiner Interpretation eines der meistgespielten Stücke der Nachkriegszeit an der Bayerischen Theaterakademie mehr Realist, als Optimist, was die Zukunft und die damit verbundene moralische Weiterentwicklung der Menschheit angeht. Seine neun Protagonisten wirken mit ihrer grellen Schminke und ihrem aufgesetzten Lachen wie ihre ganz eigene Version der Joker-Figur. Aus der vorab aufgezeichneten Ton- und Klangebene, die der Schauspieler und Musiker Nils Strunk komponiert und zuvor aufgenommen hat, und der live präsentierten visuellen Ebene hat Kohler eine Art theatrale, einstündige Symphonie mit choreographischen Elementen erschaffen. Lippensynchron bewegen sich die Münder der Schauspieler zu den Originaltexten von Thornton Wilder – mal spricht eine Frau mit einer Männerstimme, mal umgekehrt. Die Sätze und Worte werden ihren Figuren buchstäblich in den Mund gelegt, denn die Fähigkeit, ehrlich und aufrichtig mit ihrem Gegenüber zu kommunizieren, haben die traurigen, skurrilen Gestalten in dieser chaotischen Welt längst verloren. Die große Stärke der Inszenierung von Marcel Kohler besteht darin, dass sein Dramaturg Peter Sampel und er Wilders Stück nicht zum Anlass für einen wilden Performance-Ritt mit viel Klamauk und Coronavirus-Versatzstücken, sondern für eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der Textvorlage des Dramas genommen haben.
Nur einmal, als Frau Antrobus in einer öffentlichen Rede immer wieder zum Niesen ansetzt, sieht man, wie sich die Zuhörerschaft folgsam ihre Hände desinfiziert – es soll bei diesem einzigen amüsanten Bezug zu unserer aktuellen Situation bleiben. Die Welt in Marcel Kohlers Interpretation von Wilders Wir sind noch einmal davongekommen ist nach dem Baukasten-Prinzip organisiert: Rechteckig, praktisch, gut. Diese Organisationsstruktur bietet jedoch nur eine scheinbare Sicherheit für die Figuren, die in ihren Kästchen gefangen sind in ihren eigenen Gedanken und Ängsten. Zwar gibt es auch mal einen Backenkuss von Kästchen zu Kästchen – oft genug aber äußern sich die Gefühlsausbrüche der Figuren aber in gewalttätigen Aktionen untereinander: So wienert Frau Antrobus ihren Sohn und ohrfeigt ihre Tochter.
Den Schauspielern Oscar Bloch, Sebastian Kremkow, Luiza Monteiro, Steffen Recks, Sandra Julia Reils, Tamara Romera Ginés, Fabio Savoldelli, Berit Vander, Aydin Aydin gelingt es durch ihr präzises Zusammenspiel und ihr Gespür für Timing, den Zerfall einer Gesellschaft und die damit verbundene Auflösung als eigenständige Individuen darzustellen. Ihre direkte Publikumsansprache und die vielen skurrilen Szenen erzeugen trotz der Lacher, die sie kurzfristig hervorrufen, einen Effekt des Unbehagens. Wie ein wohltuender Comic Relief wirkt da das kurze Pausen-Gesichtsballett mit Jazzsounds.
Als die Premiere um 20:30 Uhr vorbei ist, fange ich laut zu klatschen an. Meine Begeisterungsstürme verhallen ungehört im Nirgendwo. Kein Schauspieler verbeugt sich, keine Premierenfeier schließt sich an diesen beeindruckenden Theaterabend an. In keinem Moment habe ich in den vergangenen Wochen mehr gespürt, wie sehr mir das Theater als Ort der Begegnung fehlt. Und wie dankbar ich doch dafür bin, dass es Regisseure wie Marcel Kohler gibt, dem gemeinsam mit seinem engagierten Team an diesem Donnerstagabend im April 2020 eine besondere Symbiose aus digitaler Ästhetik und analogem Erleben gelungen ist.
Mehr Infos über die Inszenierung findet ihr unter:
Instagram @wirsindnocheinmaldavongekommen
Eine Antwort auf „Flüstertöne #12: Die Live-Premiere“
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