
Er zählt zu den derzeit spannendsten Nachwuchsdramatikern und -regisseuren im deutschsprachigen Raum und machte in den vergangenen Jahren mit Stücken wie Ostwind oder mit Inszenierungen wie Frau F. hat immer noch Angst auf sich aufmerksam: Theater hat für den Autoren und Regisseur Emre Akal vor allem etwas mit Gemeinschaft, mit Teilhabe und dem Nachdenken über bestehende Strukturen zu tun. Im November 2019 rief er zusammen mit der Dramaturgin Antigone Akgün und einigen Mitstreitern das Projekt „Ayşe X Staatstheater“ ins Leben, mit dem die Theatermacher ihre Vision von einem Staatstheater der Zukunft verwirklichten. Ein Gespräch mit Emre Akal vor dem Blauen Haus der Münchner Kammerspiele über sein Theaterverständnis, Neuperlach und seine Verbindung zur türkischen Kultur.
Eigentlich hätte die erste persönliche Begegnung zwischen Emre Akal und mir am 11. März 2020 im Kulturbunt Neuperlach stattfinden sollen. „Was soll dieses Theater?“, hieß eine Podiumsdiskussion, in der er gemeinsam mit dem Autor Max Dorner, der designierten Chefdramaturgin und stellvertretenden Intendantin der Münchner Kammerspiele Viola Hasselberg und der Schauspielerin Berivan Kaya der Frage nachging, wie man für noch mehr Diversität innerhalb der kulturellen Einrichtungen der Stadt München sorgen kann. Die Podiumsdiskussion in Neuperlach sollte für Emre die letzte Kulturveranstaltung im öffentlichen Raum für längere Zeit werden.
„Ich habe erst in dieser Krise die ganze Dimension des sozialen Netzwerks Instagram verstanden. Letztens wurde ich in einem Interview gefragt, wie nach der Corona-Zeit wieder eine Form von Gesellschaftlichkeit entstehen kann. Dieses „wieder“ in der Frage stört mich extrem, weil ich in den vergangenen Monaten in der digitalen Welt eine Art des Zusammenhalts und der Gesellschaft erlebt habe, die ich zuvor nicht kannte“. Auch Emre und ich lernten uns Anfang diesen Jahres auf Instagram kennen und standen in den Monaten der Corona-Krise immer wieder in regem Austausch, nachdem ich es im März nicht ins Kulturbunt Neuperlach geschafft hatte.
Als Regisseur liebt es Emre Akal, seine Zuschauer*innen mit vollkommen neuen Perspektiven und Sichtweisen auf ein Thema zu konfrontieren. Politisches Theater, Performance, Choreografie: All diese Begriffe lassen sich mit Emres Art und Weise, Theater zu begreifen und seine Ideen auf der Bühne umsetzen, in Verbindung bringen. Doch seine Inszenierungen gehen weit über das hinaus, was man üblicherweise mit diesen Genres und Stilrichtungen assoziiert. Wie ein Musiker komponiert Akal seine eigenen Texte und betrachtet seine Regiearbeiten als Partitur, deren Rhythmus und Dynamik sich im Austausch mit den jeweiligen Spieler*innen immer wieder verändern können. Emre Akals Arbeiten als Autor und Regisseur waren in den vergangenen Jahren am WERK X in Wien, dem Bakirköy Belediye Tiyatrosu in Istanbul, an den Münchner Kammerspielen und am Maxim Gorki Theater in Berlin zu sehen. Mit seinem Stück Ostwind, für das er 2015 den Tanz- und Theaterpreis der Stadt Stuttgart und des Landes Baden-Württemberg erhielt, gastierte er 2016 an den Münchner Kammerspielen. Im selben Jahr entwickelte er mit Nurkan Erpulat das Stück Love it or leave it! am Maxim Gorki Theater und mit Hakan Savaş Mican ein Stück am Landestheater Niederösterreich. Im Mai 2017 gewann Akal den Jurypreis beim Nachwuchswettbewerb des Theaters Drachengasse in Wien und brachte darüber hinaus das Stück Heimat in Dosen zur Uraufführung. Nach Mutterland…stille im Jahr 2017 war zuletzt sein Stück Frau F. hat immer noch Angst im Januar 2019 in der freien Spielstätte HochX in München zu sehen.
Im November 2019 fiel dann der Startschuss für ein langfristig angelegtes Projekt von Emre Akal und seinen Mitstreitern: Mit Ayşe X Staatstheater entwarfen sie das Modell eines Theater der Zukunft als integrativem, gesellschaftspolitisch relevantem Ort. Das Theater als Gegenraum, in dem die Möglichkeit besteht, Menschen mit konträren Meinungen und Sichtweisen zusammenzubringen.
Die vergangenen Monaten nutzten Emre und sein Zwillingsbruder Kazim, der derzeit zusammen mit seinem Cousin Mehmet als Künstlerduo Mehmet&Kazim große Erfolge in der Kunstwelt feiert, um anlässlich einer Charity-Aktion der Fassbindertage das digitale Kurzdrama 12qm Körperformation zu entwickeln. Darin widmen sich die Brüder dem Thema häusliche Gewalt in Krisenzeiten. Mithilfe Virtual-Reality-Brillen trafen sich über Wochen hinweg in einem gemeinsamen virtuellen Raum und erschufen aus virtueller Knetmasse eine Beziehungsrealität, die in den Zeiten des Lockdowns zum Gefängnis wird.
Als ich Emre Akal Anfang Juli 2020 zum ersten Mal vor den Münchner Kammerspielen begegnete, traf ich ihn dort zusammen mit einer Freundin, die gerade in dem Kammerspielen zu arbeiten begonnen hat, an. Man spürte, wie ihm trotz seiner enormen Arbeits- und Betriebsamkeit in den Monaten der Corona-Krise der persönliche Austausch mit anderen Theaterbegeisterten gefehlt hatte – und auch ich war sehr froh darüber, dass unser Interview-Gespräch nach all der digitalen Kommunikation seit Beginn diesen Jahres nun tatsächlich von Angesicht zu Angesicht stattfinden konnte.
Im November 2019 hast du zusammen mit Antigone Akgün und euren Mitstreiter*innen im Münchner HochX das „Ayşe X Staatstheater“ gegründet. Ist dieser Gegenentwurf zum etablierten Stadt- und Staatstheatersystem mit seinen Hierarchien und oft starren Strukturen als eine Art Kampfansage zu verstehen?
Ich sehe das Projekt „Ayşe X Staatstheater“ nicht als Angriff auf die bestehenden Institutionen, sondern als eine Art Handreichung. Wir wollten unsere Argumente, mit denen wir auf Irritation setzen und die Wirklichkeit herausforderten, nie aus einer erhobenen Position heraus formulieren, sondern mit „Ayşe X Staatstheater“ eine Art Forschungslabor etablieren. Dieses langfristig angelegte Projekt ist aber auch eine Ermächtigungsaktion: Schließlich rufen wir damit das Staatstheater der Zukunft aus.
War es euch bei allen Bestrebungen, die aktuelle Theaterlandschaft aufzurütteln, wichtig, den Begriff „Staatstheater“ als integralen Bestandteil eures Projektnamens zu führen?
Definitiv. Denn dieser mit historischen Assoziationen aufgeladene Begriff stellt einen totalen Bruch zu Ayşe Cetin, der Namensgeberin des „Ayşe X“, dar, die sich nach ihrer Schauspielkarriere für Frauen und die Rechte der LGBTQ+-Community in München eingesetzt hat. Uns beschäftigte vor allem eine Frage: Welche Person des öffentlichen Lebens ist es wert, unser Theater der Zukunft nach ihr zu benennen?
„Postmigrantisch“, „inklusiv“, „divers“: Mit diesen Adjektiven schmücken sich gerade viele Theater. Siehst du in der Überbetonung dieser Werthaltungen auch eine gewisse Gefahr?
Für mich ist es an der Zeit, Räume des künstlerischen Wachstums zu schaffen. Räume, in denen eine neue Form und eine neue Ästhetik ausprobiert werden und in denen Künstler*innen ein neues Selbstbewusstsein entwickeln können. Künstlerisches Wachstum ist und bleibt für mich die einzige realistische Antwort auf all die Debatten, die wir gerade führen. Es liegt eine Gefahr darin, wenn es beim reinen Reden bleibt und die Diskussion über die Defizite im Kulturbereich als ausreichende Antwort auf die Schwachstellen des Systems empfunden wird. Um künstlerisches Wachstum nachhaltig zu fördern, müsste seitens der Politik und der Institutionen aktiv Stellung dazu genommen werden, indem man beispielsweise Zugänge erleichtert und bestehende Strukturen verändert.
Findest du es trotzdem wichtig, dass man sich derzeit als Theater bestimmte Grundsätze offensiv auf die Fahnen schreibt?
Solange wir es mit einer Mehrheitsgesellschaft zu tun haben, die viele Probleme wie strukturellen Rassismus nicht anerkennt, muss man gerade im Kulturbetrieb weiterhin laut und deutlich seinen Standpunkt vertreten. Denn es reicht nicht mehr aus, die Schwachstellen einfach nur als solche zu benennen.
Als welche Art von Projekt würdest du das „Ayşe X Staatstheater“ bezeichnen?
Es ist ein visionäres Forschungslabor, in dem 80 Leute mit vollkommen unterschiedlicher künstlerischer Vorprägung über eine neue Form des Sich-Begegnens und des Zusammenarbeitens in einem Theater der Zukunft diskutieren. Das Theater wird damit zur Heterotopie, also zu einem Alternativraum in der Gegenwart. Ich selbst sehe mich als Teil einer neuen Bewegung: Mein Interesse liegt nicht in der Reproduktion von Erwartungshaltungen, die sich auf äußere Eigenschaften wie Herkunft etc. beziehen. Ich zähle mich zu einer neuen Generation von Theaterschaffenden, die sich in viel größeren Räumen bewegen, universelle Themen verhandeln und als Künstler ein Selbstverständnis jenseits von Labels und Zuschreibungen entwickelt haben.
Deine Theaterstücke beruhen auf ausführlichen Recherchen und beschäftigen sich mit aktuellen gesellschaftlichen und politischen Fragestellungen. Im Gegensatz zu vielen anderen Regisseuren hast du dich jedoch nicht dem Dokumentartheater verschrieben, sondern eine ganz eigene Form der Theatersprache zwischen Performance, Choreografie, Installation und Bildkomposition entwickelt.
Mein erstes Stück Schafspelzratten kann man noch am ehesten mit dem vergleichen, was man klassischerweise als Dokumentartheater bezeichnet. Aber schon dieses Drama hatte eine sehr artifizielle Form. Die Recherchen, die ich für ein neues Stück betreibe, dienen mir immer als Materialgrundlage, um daraus einen eigenen künstlerischen Vorgang zu erschaffen. Ich habe eine große Lust an Ästhetik, an einem formalen Zugriff auf einen Stoff und der Bearbeitung von Themen aus der Distanz heraus. Oft suche ich nach einer Verbindung mit der Bildenden Kunst, um auf der Bühne gemeinsam mit anderen Akteur*innen Bildwelten entstehen zu lassen.
Die künstlerische Verarbeitung der Erfahrungen anderer Menschen ist das, was ich derzeit so häufig in Dokumentartheater-Inszenierungen vermisse. Schließlich gerät man dadurch in die Versuchung, Menschen auf der Bühne auszustellen.
Ich bin gegen jede Art von Ausbeutung der persönlichen Lebensgeschichte eines Menschen. Diese Art von Dokumentartheater interessiert mich schlichtweg nicht.
Es stellt sich für mich vor allem die Frage, wen man mit diesen Inszenierungen erreichen möchte. Schließlich haben wir es im Theater vor allem mit einer sehr gebildeten, aufgeklärten Zuschauerschicht zu tun.
Ich denke es ist sehr wichtig, sich die Frage zu stellen, welche Perspektiven auf der Bühne verhandelt werden und für wen man diese verhandelt. Wenn wir ehrlich sind, dann muss man zugeben, dass man die Zusammensetzung des Theaterpublikums nicht durch niedrigschwellige Angebote in bestimmten Stadtvierteln beeinflussen wird, sondern dadurch, dass das Theater der äußeren Realität im Inneren seiner Institution gerecht wird.
Was möchtest du als Autor und Regisseur mit deinen Stücken und Inszenierungen erreichen?
Ich sehe mich als Künstler auf dem Weg, wie ich Eingang schon einmal erwähnt hatte. Mich treibt die Frage um, wie man neue Geschichten und Perspektiven mit einem künstlerischen Vorgang in Verbindung bringen und daraus ein neues Kunstwerk entstehen lassen kann, das unsere Realität in einer gewissen Art und Weise stört und Fragen im Publikum aufwirft.
Was bedeutet es für dich, im Theater Kunst zu machen?
Der Begriff „Kunst“ beinhaltet gerade im Theater immer eine gewisse Gefahr – denn er ist nicht greifbar, nicht planbar, nicht berechenbar. Gutes Handwerk hingegen hat es da im rasenden Motor einer Institution oft leichter. Im besten Fall ist man als Theatermacher sowohl ein Künstler, als auch ein guter Handwerker.
Wie würdest du deine eigenen handwerklichen Fähigkeiten beschreiben?
Ich sehe mich wie bereits erwähnt als einen Künstler, dem es weniger darum geht, irgendwo anzukommen, als Stück für Stück seinen eigenen Weg zu beschreiten. Mit jeder Erfahrung lerne ich neue Arten und Weisen kennen, Dinge umzusetzen oder sie lieber bleiben zu lassen. Ich lese sehr viel – vor allem auch Stücke anderer Autor*innen – und schaue mir Inszenierungen von Kolleg*innen an. Und ich vertraue absolut auf meine Intuition – die ist mein bester Ratgeber.
Du hast in früheren Jahren einige Zeit als Schauspieler gearbeitet. Empfindest du dieser Erfahrung als Vorteil im Umgang mit den Schauspielern während der Probenarbeiten zu deinen Inszenierungen?
Das meinte ich zumindest, bis ich eines Besseren belehrt wurde. Die Position des Regisseurs oder der Regisseurin ist mit viel Druck verbunden und ich lerne bei jeder Produktion ein Stück weit mehr dazu, wie man mit Menschen umgehen sollte oder könnte. Ich bin von Grund auf kein Machtmensch, der seinen Willen diktatorisch durchsetzt. Das Verlangen danach, Dinge im Kollektiv zu entscheiden, ist groß – aber ich habe eben auch eine künstlerische Vision und spüre intuitiv, was für mich auf der Bühne funktioniert und was nicht. Wenn man es nicht schafft, die Schauspieler*innen auf seinem eigenen künstlerischen Weg mitzunehmen, der in einem gemeinsamen Prozess auch unbedingt immer wieder zur Diskussion gestellt werden sollte, dann kann es schmerzhaft werden für alle Beteiligten.
Ein Theaterbetrieb, in dem das Recht auf Mitbestimmung gilt, Gleichberechtigung praktiziert wird und faire Produktionsbedingungen vorherrschen: Ist dieses Ideal außerhalb einer weniger Beispiele funktionierender freier Organisations- und Arbeitsstrukturen nicht eine grenzenlose Utopie?
Eine Utopie ist es für mich nicht, denn es gibt derzeit schon viele geglückte Versuche dieser neuen Art, Theater zu denken. Was das Thema Mitbestimmung angeht, kann man viele Lehren aus der Vergangenheit ziehen und sich fragen, was es überhaupt für den Einzelnen bedeutet, sich mit seinen Ideen und Gedanken einbringen zu können. Es war ein Lernprozess für mich, zu begreifen, dass es vor allem darum geht, im Theater eine klare Haltung zu einem Thema und Stoff zu haben und diese nach innen wie nach außen hin zu vertreten. Nur so können Diskussionen entstehen und die Schauspieler*innen und andere Beteiligte haben die Chance, sich aktiv in einen künstlerischen Prozess einzubringen und eine eigene Haltung dazu zu entwickeln. Die Probenarbeit wird dadurch im besten Fall eine Win-Win-Situation für alle Beteiligten.
Deine Stücke wie „Ostwind“, in dem du Blick auf die neuen Zuwanderer aus dem Südosten Europas richtest, oder „Nur ihr wisst, ob wir es geschafft haben werden!“ waren geradezu visionär, wenn man die aktuellen gesellschaftlichen und sozialen Entwicklungen betrachtet.
Ich war einmal bei einer Veranstaltung des Künstlers Jonathan Meese, der dort einen sehr interessanten Satz gesagt hat: „Wenn du das Jetzt zeigst, ist es in dem Moment, in dem du es zeigst, schon wieder vorbei“. Das bedeutet für mich, dass man eigentlich das Morgen zeigen müsste, damit es im Moment der Vorführung aktuell ist. Ich interessiere mich grundsätzlich sehr für die Gesellschaft und für die Abgründe, die sich im Verborgenen auftun. Und für die Rebellion einiger Menschen gegen eine bestimmte Form, in die sie sich vermeintlich zu fügen haben. Wenn ich dann weiter denke und analysiere, wie diese Dynamiken eine Gesellschaft und ihre Menschen auf Dauer verändern, dann tue ich das aus einer Zukunftsperspektive heraus. Das verschafft mir viel Freiheit.
Welche Rolle spielt für dich die Form eines Dramas im Gegensatz zu seinem Inhalt?
Die Form allein – so gut und durchdacht sie auch sein mag – reicht für mich nicht aus. Am besten versucht man eine Verbindung zwischen einem starken formalen Zugriff auf einen Stoff und der Vermittlung eines interessanten Inhalts hinzukommen.
Ist es dir Wichtigkeit, dass das Publikum eine bestimmte Handschrift in deinen Stücken und Inszenierungen erkennt?
Einen gewissen Wiedererkennungseffekt finde ich wichtig. Aber ich möchte mich nicht in eine bestimmte Rolle drängen lassen und nur noch eine Art von Theater machen. Beim Schreiben von Stücken bemerke ich eine immer wieder kehrende Mechanik, die aus Rhythmik und Wiederholung besteht. Meine Regiearbeiten zeichnen sich ganz klar durch einen choreografischen Zugriff, aber auch durch das Interesse an ästhetischen Mitteln, Stimmungen und Bildern aus.
Deine Stücke haben einen großen Schauwert. Wie wichtig ist dir die bildliche Ebene im Vergleich zur textlichen?
Da Malerei schon immer eine große Rolle in meiner Familie gespielt hat, bin ich seit jeher ein sehr visueller Mensch. Sprache hingegen habe ich lange Zeit als ein sehr ausschließendes Element empfunden. Daher habe ich oft nach einem Weg gesucht, Menschen über einen Subtext – also über das, was sie auf der Bühne sehen – an einem künstlerischen Prozess teilhaben zu lassen, ohne dass sie dazu einen Text hören und ihn verstehen müssen. Als Autor hingegen empfinde ich im Gegensatz dazu eine große daran, mit Sprache experimentieren zu dürfen: 136 Textseiten wie in meinem neuesten Stück „Hotel Pink Lulu – Die Ersatzwelt“ sind da keine Seltenheit. Gut, dass das ein anderer Regisseur oder eine Regisseurin inszenieren werden (lacht).
Empfindest du deine Inszenierungen als leicht zugänglich für die Zuschauer?
Da sie nicht nach gewohnten dramaturgischen und/ oder inszenatorischen Mustern aufgebaut sind, muss man sich auf meine Inszenierungen einlassen. Menschen mit anderen Sehgewohnheiten oder auch jene ohne große Theatervorkenntnisse sind dabei meiner Erfahrung nach klar im Vorteil. Ich nutze immer die Mittel des Theaters und der Bildenden Kunst und erfinde damit das Rad nicht neu: Aber ich habe großen Spaß daran, mit der Seherfahrung des Zuschauers zu spielen.
In der Inszenierung „Mutterland…stille“, die im November 2017 am HochX Premiere feierte, geht es um den Prototyp einer türkischen Familie, die keinen Platz mehr hat im rasenden Wandel ihres Landes.
In der türkischen Sprache heißt „Vaterland“ „Mutterland“. Die Mutterfigur spielt eine zentrale Rolle in diesem Stück: Bei dem Versuch, ihre Familie zu retten und sich anzupassen, opfert sie nach und nach immer mehr Familienmitglieder. Mutterland…stille war übrigens auch ein Stück, das nur über den Subtext funktioniert.
Es gibt eine sehr beklemmende Szene in der Inszenierung, in der die Mutter ihre Tochter dazu zwingt, mehrere Tafeln Schokolade auf einmal zu essen.
Immer wenn ich die Aufzeichnung dieser Szene auf meiner Homepage sehe, erlebe ich den darin dargestellten inneren Zustand der Figuren wieder. Die sprachlose Szene funktioniert rein über die Emotionen der beiden Schauspielerinnen. Die Zuschauer*innen sehen und spüren, dass sich der Text in Wahrheit in den Köpfen der Spieler*innen abspielt.
Gab es eine konkrete Erfahrung, die dich zu einer der wichtigsten Szenen in deinem Stück inspiriert hat?
Überall dort, wo der Mensch nicht mehr das ausspricht, was er denkt und sich gesellschaftliche und politische Denkweisen unbemerkt Platz in unserer Seele verschaffen. Restriktion, Gewalt und Unterdrückung erleben wir im Alltag: Nicht nur in bestimmten Ländern, sondern mitten hier in unserer Gesellschaft. Dafür muss ich nicht weit reisen.
„Love it or leave it!“: So hieß ein Stück über die Türkei, das du 2016 mit Nurkan Erpulat am Maxim Gorki Theater entwickelt hast. Welche Rolle spielt die türkische Kultur in deinem Leben?
Eine große. Ich bin vor allem literarisch und künstlerisch mit diesem Land verbunden – mein Vater war dort Schauspieler, mein Opa Maler und mein Uropa Schriftsteller. Ihre Kunstenergie ist zwar zweifelsohne auf das Künstlerduo Mehmet und Kazim – also auf meinen Zwilling und Cousin und auch auf mich – übergegangen: Aber dadurch, dass man wie wir in Deutschland aufgewachsen ist, verlor man die Anbindung an die künstlerische Prozesse innerhalb der eigenen Familie. Wir mussten uns das Recht auf das Privileg, Kunst zu machen, erst wieder zurück erkämpfen. Das haben wir unverschämter und unerwarteter Weise auch getan und niemanden um Erlaubnis gefragt. Ging gar nicht anders!
Was für ein künstlerisches Erbe in einer einzigen Familie…
Energetisch und genealogisch gesehen absolut! Wir nennen es spaßeshalber Kunstadel. Was man aus diesem Erbe macht, ist einem selbst überlassen.
Lieber Emre, ich freue mich immer noch sehr über diese erste persönliche Begegnung mit dir und über den spannenden Austausch über deine Arbeit! Herzlichen Dank für dieses Interview und alles Gute für die kommenden Monate und Jahre! Ich werde deinen künstlerischen Weg mit großer Neugierde weiter verfolgen.
Mehr Informationen über Emre Akal und seine Arbeit:
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3 Antworten auf „#Interview mit dem Autor und Regisseur Emre Akal“
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